Klassenzimmer

Psychologe Jürgen Hesse über Klassentreffen

"Man kann auch einfach absagen"

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Alle fünf bis zehn Jahre kommt die unweigerliche Einladung zum Klassentreffen. Die Reaktionen auf das anstehende Wiedersehen sind unterschiedlich.

Vor einem solchen Treffen haben manche richtig Panik – oder zumindest ein mulmiges Gefühl im Bauch. Frage an den Berliner Psychologen Jürgen Hesse: Warum eigentlich?

Jürgen Hesse: Wir müssen uns verdeutlichen, dass die Schulzeit eine ganz besondere Zeit für uns gewesen ist, mit starken emotionalen Prägungen – sozusagen aus der Familie raus, in eine ganz neue soziale Gemeinschaft. Und gerade in der Pubertät beobachte man die Anderen, beneidet sie, man wird selbst vielleicht beneidet, man spürt das andere etwas besser können. Und jetzt, nach zehn Jahren, ist wieder die Gelegenheit, sich zu präsentieren: Der eine ist stolz darauf, dass er promoviert hat oder sich sogar mit dem Professorentitel schmücken kann und der Andere schämt sich, obwohl er kein schlechter Schüler war. Hinzu kommt natürlich nicht nur das Berufliche, sondern auch das Private: Gerade Mädchen vergleichen dann "Wie viele Kinder hast du?" – "Ach du hast keine." All das sind Themen die abgeglichen werden und je nachdem, wie wir uns selbst erleben in der Gesellschaft, ist das für Einige eine Art Narzissmus-Fest. Man fühlt sich gut, wenn man für andere etwas vorzuweisen hat.

Was macht man, wenn man sich alt und hässlich fühlt, frisch geschieden ist, die Kinder die Schule geschmissen haben und man die zehn Kilo zu viel kurz vor dem Klassentreffen doch nicht mehr runter gehungert bekommt? Trotzdem hingehen?

Jürgen Hesse: Man kann einfach absagen. Man kann auch wegbleiben, ohne sich weiter zu erklären, aber es ist auch ein interessantes Experiment sich selbst zu erleben, sich in Relation zu anderen zu setzen. Das relativiert in der Regel das positive wie auch das vermeintlich schlechte Schicksal, was man vielleicht erlitten hat oder als solches empfindet. Insoweit würde ich immer sagen: Horchen Sie in sich hinein und entscheiden Sie, ob Sie sich das zumuten wollen oder besser nicht.

"Wenn sie neugierig sind und darauf gespannt sind, ob der Klassenbeste tatsächlich Karriere gemacht hat oder vielleicht irgendwo ein ganz kleiner Angestellter ist, gehen sie hin".

Was macht man denn, wenn es an das Prahlen geht – aller "mein Haus, meine Yacht, mein Porsche"?

Jürgen Hesse: Das ist ein ganz typisches Verhalten. Ich würde dann empfehlen sich zurück zu lehnen, zu lächeln und sich das anzuschauen – diesen narzisstischen Zirkus. Ich würde da nicht unbedingt mitmachen, würde mich da eher etwas bescheidener geben. Gerade die, die damit angeben müssen, haben es nötig. In unserer Gesellschaft lernt man eine gewisse Fassade aufzubauen, aber wir wissen auch, dass hinter der Fassade manch Geheimnis schlummert, was wir eigentlich besser gar nicht wissen sollten.

Wie sollte man denn eigentlich umgehen mit Leuten, die man früher in der Klasse oder Schule nicht leiden konnte?

Jürgen Hesse: Das ist dann ein guter Test um zu schauen, ob sich da emotional etwas verändert hat und das bekommt man ganz schnell raus, das braucht nicht viele Sekunden. Fakt ist jedenfalls: Sie können ganz bewusst auf solche Leute nochmal zugehen und eingestehen, dass man sich früher vielleicht nicht so gut vertragen hat, das man persönlich Schwierigkeiten hatte. Sie können aber auch feststellen, die haben sich verändert, sie haben sich verändert und aus denen ist etwas interessantes geworden.

"Fakt ist: Es ist ein Psycho-Abenteuer."

Hätten Sie noch drei Survival-Tipps um das nächste Klassentreffen gut zu überstehen und vielleicht sogar noch Spaß zu haben?

Jürgen Hesse: Gute Frage! Das Erste ist, bevor man hingeht, sich nochmal ganz bewusst damit auseinander zu setzen wie man die Schulzeit erlebt hat und welche Gefühle man innerhalb dieses Klassenverbandes zu den meisten Mitschülern gehabt hat. Das ist immer gut sich da ein bisschen darauf einzustimmen und wenn es mit Schmerz verbunden ist, muss man sich diesem natürlich nicht aussetzen. Die zweite Empfehlung ist dort hinzugehen und da nicht aufzutreten als Büßer, als Gescheiterter, als Versager, sondern sich in einem gewissen Normbereich zu bewegen – egal wie das Leben einen mitgespielt hat oder welche Vorteile man genießen konnte. Und die dritte Empfehlung ist, dass wenn es anfängt nervig zu werden oder sie sich gestört fühlen verabschieden sie sich freundlich. Setzen Sie sich unangenehmen Situationen nicht länger aus als unbedingt notwendig.

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SWR