Ulrike Ottinger und Mariëtte Rissenbeek

Ehrenpreis fürs Lebenswerk

Laudatio für Ulrike Ottinger von Mariëtte Rissenbeek

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Guten Abend, liebes Publikum, verehrte Gäste,

Es ist mir eine große Ehre, aber vor allem eine große Freude, heute Abend diese Laudatio auf Ulrike Ottinger anlässlich der Verleihung des Ehrenpreises des Deutschen Dokumentarfilmpreises für das Lebenswerk halten zu dürfen. Eine große Ehre, weil der Name und das Werk Ulrike Ottingers weltweit respektiert und anerkannt sind. Eine große Freude, weil ich Ulrike als einen warmherzigen Menschen kennen gelernt und ihre Filme immer als anregend und bereichernd wahrgenommen habe.

Ulrike Ottingers Filme sind gleichzeitig Anregungen zum Nachdenken – und berühren unsere Sinne.

Zugleich sind all ihre Arbeiten wie „Floating Food“, so der Titel einer wunderbaren Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt aus dem Jahr 2011, die uns in das Universum der Ulrike Ottinger entführt hat.

Ihr Werk ist für mich schwebend, es treibt sanft auf und in unserer Seele, es ist Nahrung für unseren Geist, der erst dann so richtig munter wird, wenn er inspiriert wird – und auf Reisen gehen darf.

Der Name Ulrike Ottinger wurde mir Ende der 70er, Anfang der 80er bewusst. „Bildnis einer Trinkerin“ (aus dem Jahr 1979) hieß der Film, den mir damals eine Freundin empfahl. Eine Frau, die sich für ihren eigenen Weg entscheidet, den sie in Berlin, sorgfältig geplant, bis zum Schluss geht. Kein dokumentarisches Werk. Oder doch? Der Film hat mich damals sehr beeindruckt, mir das Lebensgefühl Berlin vermittelt. Die große Kraft von „Bildnis einer Trinkerin“ erkannten damals schon Hans Jürgen Pflaum und Hans Helmut Prinzler. Sie schwärmten von einem „intellektuellen Augenspaß“, der eine „enge Verbindung von Hypermode und Subkultur“ schuf.

Ulrike Ottinger sieht hin, erforscht, durchdenkt, konzipiert. Ihre große Gabe ist das Beobachten mit ihren wachen, klugen Augen, die immer neugierig, verständnisvoll, interessiert sind. Diese Beobachtungen finden sich in ihren dokumentarischen Werken wie in ihren Spielfilmen wieder. Sie alle zeigen uns, dem Publikum, wie Wirklichkeit und Geschichte sich gegenseitig bedingen. Im Werk von Ulrike Ottinger liegen Dokumentarisches Erzählen und Spielfilm sehr nah aneinander, sind eng und innig verschlungen.

Das genaue Beobachten ist im Übrigen eine der vielen, faszinierenden Besonderheiten, die Ulrike Ottinger schon als Kind hatte. In einem SZ-Interview (2020) erzählt sie: "Ich glaube, eine gute Beobachterin bin ich schon vorher gewesen. Ich habe Dinge schon als Kind immer sehr genau angeguckt."

„Die Dinge sehr genau angucken.“ Für mich heißt das auch: Hier ist jemand, der sehr neugierig ist, der gerne in die Tiefe wandert und deshalb Dinge, Menschen, Geschichten, Geheimnisse entdeckt, die andere nicht sehen. Dazu muss man eben die Augen weit öffnen.

Fast 10 Jahre später kam mir der Name Ulrike Ottinger sehr konkret und nachdrücklich wieder in den Sinn. „Joanna d’Arc of Mongolia“ lief 1989 im Wettbewerb der Berlinale und beeindruckte mich.

Das präzise Spiel vor allem von Irm Hermann und Delphine Seyrig fielen mir sofort auf. Die Landschaft, die Steppe, das Fremde – die Weite der Mongolei. Sie zogen mich in ihren Bann. Die Aufnahmen muten gelegentlich dokumentarisch an, aber die Ottinger-Kennerin weiß, sie wurden alle präzise und bewusst gestaltet. Nichts ist zufällig – und es ist auch nichts „authentisch“. Ulrike Ottinger präsentiert uns ihren Blick auf die Welt und ihr Konzept davon. Ethnographische Elemente werden mit persönlichen Perspektiven und Sichtweisen verbunden. Ach ja, natürlich ist der Film auch wieder eine Reise, eine Entdeckung samt Eisenbahn …

Ulrikes Filme kamen immer zu mir. Ich habe sie nicht gesucht. Wie zufällige Begegnungen, die am Ende eben – wie im Leben – kein Zufall sind … „Südostpassage“ (aus dem Jahr 2002). Eine Nacht lang Ottinger-Film im Rahmen des Festivals du Cine Allemand im Kino l’Arlequin in Paris, 2009. German Films organisiert die „Deutsche Filmwoche“ und arbeitet für die Retrospektive mit dem Goethe Institut zusammen. Wir hatten das noch zuvor nie gemacht, eine Nacht lang Film zeigen. Es waren aber alle sofort dabei. Der Vorführer – Anfang der 2000er Jahre gab es noch richtig Vorführer –, das Kino, und allen voran das Goethe Institut, das den Film ausgewählt hatte. Nach dem Film, am frühen Morgen, gab es Café et Croissants für diejenigen, die durchgehalten hatten. Und das waren etliche.

Ein Film, eine ethnographische Reise nach Ost- und Südeuropa, mit Geschichten über Menschen, Beobachtungen von Ritualen. Der Film – 363 Minuten lang – hat uns hellwach gehalten. Ich kenne wirklich Niemanden, die es schafft, jeden Film so zu prägen, dass man sofort weiß: Das ist ein Film von Ulrike Ottinger. Und gleichzeitig sind all ihre Filme so verschieden, so reich an unterschiedlichen Geschichten, Themen, Sichtweisen, Ritualen, Formen. Jeder Film ist eine Entdeckungsreise. Man fragt sich: Wie kann diese Frau auch nach 20 oder 25 Filmen noch so neugierig sein? Wo findet sie immer wieder neue Themen, neue Geschichten, die sie erzählen will? Aus welcher unendlich tiefen, fruchtbaren Quelle schöpft sie?

Noch einmal 10 Jahre später. März 2019. Das MoMA in New York hatte mir eine Carte Blanche für 10 Filme gegeben. Ich fand es spannend, Filme von Kamerafrauen zu präsentieren. Ulrike Ottinger gehörte natürlich dazu. Unter Schnee. Der Saal ist vollgepackt. Alle haben die Ohren gespitzt und die Augen weit geöffnet. Beim Q&A hätte man noch bis tief in die Nacht sprechen können, die Neugier des Publikums war so groß. Ulrikes Galeristin in New York hat umgehend die Gelegenheit genutzt und auch etwas organisiert. Ulrike berichtet mir konzentriert und zufrieden, als ich sie am nächsten Tag zufällig in einem kleinen Café in der Nähe vom MoMA treffe.

Meine bestimmt nicht letzte Begegnung mit einem Ottinger-Film: „Paris-Caligrammes.“ Bei der 70. Berlinale wurde Ulrike Ottinger 2020 mit der Berlinale-Kamera ausgezeichnet, anschließend gab es „Paris-Caligrammes“ zu sehen. Das Pariser Lebensgefühl und die kulturelle Intensität der Stadt bilden eine starke Anziehungskraft auf deutsche Künstler*innen. Auch vorherige Preisträger des Ehrenpreises wie Georg-Stefan Troller oder Wim Wenders haben eine starke Verbindung zu Paris, ein spannender Gedanke, wie sich ihr Werk mit dem von Ulrike Ottinger verbinden lässt.

„Paris-Caligrammes.“, also. Ein Blick zurück in die prägende Pariser Zeit von Ulrike. Durchaus ein anspruchsvoller Blick, ein spannender Blick. „Ich bin nach Paris gekommen mit der Absicht, mich künstlerisch sehr stark weiter zu entwickeln und habe dafür alles in Kauf genommen”, erzählte Ulrike Ottinger in einem Interview. Diesen Film konnte man dann im Januar 2024 beim Filmfestival in Trieste sehen. Das Filmfestival hatte mir die Möglichkeit gegeben, 15 Filme von deutschen Regisseurinnen zusammen zu stellen, ich hatte mich für „Paris Caligrammes“ von Ulrike entschieden. Der Saal ist wieder voll, auch wenn diesmal Ulrike leider selbst nicht vor Ort dabei sein kann. Die Reaktionen des Publikums nach dem Film sind begeistert, warm. Sie sind so intensiv, dass die Festivalleiterin mir sagt, vielleicht könne man im nächsten Jahr eine kleine Retrospektive von Ulrikes Werk überlegen. Das wäre doch eine tolle Idee.

Die vielseitige Künstlerin Ulrike Ottinger hat ihre Spuren in der ganzen Welt hinterlassen, ihre Fans sind überall.

Das konnte ich vor einigen Wochen wieder feststellen, als ich mich mit Menschen aus meinem internationalen Netzwerk in Cannes traf und über meine Pläne und Projekte erzählte. „Ulrike Ottinger? Super, eine großartige Filmemacherin! Ihr habt vor, Filme an der US-Ostküste zu zeigen? Dann musst Du doch eine Tournee daraus machen, von der Ost-Küste zur West-Küste. Ich hab da ein paar Ideen. Wir sollten uns unbedingt unterhalten, ich kann Dir die Kontakte für die Kinos geben und bestimmt gibt es auch Möglichkeiten für eine Ausstellung.“ Und es gab noch mehrere weitere solche Gespräche, es waren alle sehr euphorisiert. So kommt der Preis heute Abend wirklich im richtigen Moment. Der Name Ulrike Ottinger stößt auf offene Ohren, man kennt und schätzt ihre Arbeit.

Und heute? Nach 27 Filmen sind Ulrikes Ideen, Schöpfungen, Pläne immer noch kraftvoll, einzigartig, besonders. Ihre Filme sind klug, präzise, emotional, sinnlich. Ich freue mich auf den nächsten Film, den ich dann hoffentlich irgendwo an einer entfernten Ecke dieser Welt sehen kann. Ich lasse mich überraschen.

Liebe Ulrike – herzlichen Glückwunsch zum Ehrenpreis des Deutschen Dokumentarfilmpreises 2024.

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Autor/in
SWR