Rennrad | Tour de France

Jan Ullrich: "Bin mir sicher, dass ich nicht mehr die Extreme brauche"

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Jan Ullrich ist der erfolgreichste deutsche Radsportler aller Zeiten. Nach seinem Doping-Geständnis stürzte er jedoch ab. Nun soll es wieder aufwärts gehen.

Vor 27 Jahren gewann Jan Ullrich als bislang einziger Deutscher die Tour de France. Bei seinen packenden Duellen mit Lance Armstrong begeisterte der Rostocker die Massen, nach seinem Dopingskandal 2006 folgte der tiefe Absturz mit vielen Lebenskrisen. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur spricht der 50-Jährige über sein am Dienstag erschienenes Buch mit der schweren Aufarbeitung seines Lebens, die weiteren Ziele und die anstehende Frankreich-Rundfahrt.

Jan Ullrich, in diesen Tagen erscheint Ihr Buch "Himmel, Hölle und zurück ins Leben". Beschreibt das auch passend ihr Leben in Extremen?

Jan Ullrich: Ja, ich habe ja beides durchgemacht. Mein sportlicher Erfolg in einer der schwersten Sportarten der Welt, als einziger Deutscher die Tour de France zu gewinnen, das war für mich der Radsport-Himmel. Und dann gab es natürlich auch die schwere Zeit danach, in der ich auch mit meinen Lebenskrisen richtig, richtig tief gefallen bin. Das war die Hölle. Aber es hört ja nicht damit auf, denn der Weg führt zurück ins Leben. Die Aufarbeitung, die ich mit der Öffentlichkeit geteilt habe, war super wichtig für mich. Der Lebensrucksack ist leichter geworden. Der Druck ist von meinen Schultern, mein persönlicher Druck ist weniger geworden, und ich fühle mich damit endlich wieder wohl.

Sie geben auch tiefe Einblicke preis. Wieviel Überwindung hat es gekostet, das zu Papier zu bringen?

Ullrich: Im Buch fiel es mir schon etwas leichter als in der Doku. Auch ich habe mich gefragt: Warum hat es mich so lange verfolgt und warum habe ich so viele Jahre nichts gesagt? Da gibt es Gründe, da waren Barrieren, aufgebaut vor allem von mir selbst. Die einzureißen, das hat mich Kraft und Überwindung gekostet. Es war mein enges Umfeld, das mich darin bestärkt und mir klargemacht hat: Über diese Hürde musst du rüber, dann wird es leichter. Das war eines der schwersten Dinge in meinem Leben. Jetzt bin ich happy, dass ich es gemacht habe. Und ich weiß: Das holt mich nicht mehr ein. Das ist ausgesprochen und für mich verarbeitet. Deshalb bin ich mir auch sicher, dass ich jetzt wieder im normalen Leben stehe und nicht mehr die Extreme brauche, die ich früher gesucht habe.

Wie waren denn die Reaktionen auf Ihr Doping-Geständnis?

Ullrich: Das Feedback der Menschen und der Fans war besser als ich dachte. Viele waren froh, dass ich endlich reinen Tisch gemacht habe. Und hatten zugleich Verständnis dafür, dass ich meine Radsport-Familie – denn das ist der Radsport immer noch für mich – mit meinen Geständnissen nicht zusätzlich belasten wollte. Das tat so gut. Es gab viele, viele Zuschriften, teilweise auch lange handgeschriebene Briefe von Fans. Auch die Medien waren fair. Viele Menschen haben jetzt besser verstanden, wie damals der Radsport funktionierte. Auch deshalb haben sie mir verziehen.

Hat Ihnen auch der Profi-Radsport vergeben?

Ullrich: Intern wusste man ja, wie es damals gelaufen ist. Jeder Profi, mit dem ich gefahren bin, hatte deshalb einen anderen, differenzierten Blick auf die Ereignisse. Auch auf die, die mich betrafen. Mein Eindruck ist: Die schätzen mich und haben Respekt vor dem, was ich geleistet habe. Es war mir wichtig, dass ich meine Story erzähle und nicht die von anderen.

Würden Sie noch einmal eine Funktion im Profi-Radsport übernehmen?

Ullrich: Soweit habe ich noch nicht gedacht. Zur Zeit kann ich mir das nicht vorstellen, aber: Sag niemals nie.

Wo soll es denn beruflich hingehen?

Ullrich: Wo ich mich sehe, ist beispielsweise die Aufgabe als Experte. Das hatte ich mir vor einem Jahr noch nicht vorstellen können. Ich freue mich, denn der Radsport bestimmt nach wie vor mein Leben. Das ist meine Leidenschaft, meine große Liebe. Dazu organisiere ich meine Radsport-Events, eines davon auf Mallorca gemeinsam mit Lance (Armstrong). Das ist für ein Jahr schon ganz gut. Was weiter entsteht, wird sich zeigen. Ich werde dem Radsport immer erhalten bleiben. Denn ich liebe diesen Sport sehr.

Bei der Tour-Organisation zählen Sie wie Lance Armstrong immer noch zu den unerwünschten Personen. Fühlen Sie sich ungerecht behandelt?

Ullrich: Ich habe mit Ausnahme des letzten Jahres nie probiert, dabei zu sein. Und ich finde: Die Zeit ist reif, dass man sagen kann: Jetzt machen wir – in Anerkennung auch der Fehler, die ich gemacht habe - einen Strich drunter. Ich bin Tour-de-France-Sieger und gehöre zur Tour-Geschichte dazu. Zu meinen Fehlern – die nicht nur meine waren – habe ich mich bekannt. Offen für ein Gespräch zu sein, halte ich für wichtig. Es ist so viel Zeit vergangen, da kann man sich auch an einen Tisch setzen und darüber sprechen, wie man die Zukunft gestaltet.

Ihr Sieg ist in den Ergebnislisten geblieben, die sieben Erfolge von Armstrong wurden gestrichen. Ist das der richtige Umgang mit der Geschichte?

Ullrich: Das müssen andere entscheiden. Ich habe meine Meinung dazu, aber da halte ich mich zurück.

Am Samstag beginnt das Rennen. Wie groß ist Ihre Vorfreude?

Ullrich: Riesig. Ich bin sogar die ersten Tage vor Ort in Italien, weil ich dort einige Termine habe. Die Tour de France ist immer ein Highlight. Auf die Kämpfe in den Bergen freue ich mich besonders. Zu einigen Profis habe ich weiterhin Kontakt.

Wer ist Ihr Favorit?

Ullrich: Das ist natürlich Pogacar. Was er aktuell beim Giro gezeigt hat, war großartig. Er ist der Eddy Merckx unserer Zeit. Jonas Vingegaard ist noch gehandicapt nach seinem schweren Sturz im Baskenland. Ich bin mir sicher, dass er eine gute Leistung bringt, aber ihm fehlen eben ein paar Wochen Training. Da wird es schwer, die gesamte Tour gewinnen zu können. Wir haben auch noch unser deutsches Team (Bora-hansgrohe) mit Primoz Roglic. Die haben sich intensiv das gesamte Jahr auf die Tour vorbereitet. Die können auch etwas reißen.

Wären Sie gerne einmal in Ihrer Karriere gegen Tadej Pogacar gefahren?

Ullrich: Ja. Ich wäre auch gerne heute junger Profi. Auch weil ich dann das Doping-Problem nicht hätte. Sport ist ein toller Beruf. Wenn meine Kinder Radprofi werden wollen, würde ich das aus vollem Herzen unterstützen.

In den letzten Jahren ist der Radsport immer schneller geworden, Bergrekorde wurden pulverisiert. Sind diese Leistungen wirklich ohne Doping möglich?

Ullrich: Ich bin überzeugt, ja, das ist so. Ein System mit weit verbreitetem Doping ist nicht mehr möglich. Auch der Weltverband hat eine viel stärkere Durchsetzungskraft und ist mittlerweile finanziell sehr gut aufgestellt. Für mich sind die Leistungen erklärbar. Ich weiß, welche Verbesserungen die neuen Räder bringen, welche positiven Auswirkungen die Optimierung der Aerodynamik hat. Das größte und wichtigste Thema ist jedoch Ernährung. Das ist völlig anders als zu meiner Zeit, viel ausgefeilter, kontrollierter und nährstoffoptimierter. Auch das Training hat sich verändert. Heute wird jeder Kilometer unter Aufsicht absolviert mit genauester Analyse von Puls- und Wattwerten. Wir haben damals im Training einfach tausende Kilometer abgesessen. Auch deshalb sind diese heutigen Leistungen für mich erklärbar und ich glaube auch, dass die heutige Generation aus unseren Fehlern gelernt hat. Der Profi-Radsport ist anders geworden.

Der deutsche Radsport hinkt derzeit hinterher. Machen Sie sich Sorgen?

Ullrich: Nein. Die Tour de France gibt es seit mehr als 100 Jahren, und es konnte sie bisher nur ein Deutscher gewinnen. Das ist auch nicht leicht. Aber es gibt starke Nachwuchsklassen, wir fördern unsere jungen Fahrer. Wir haben auch ein gutes deutsches Team, bei dem ein großer Sponsor eingestiegen ist. Das ist eine sehr positive Entwicklung. Wir hatten ein wenig Pech mit dem schweren Sturz von Lennard Kämna. Bei ihm sehe ich zur Zeit das größte Potenzial. Licht am Horizont gibt es auch mit Georg Steinhauser. Er ist einen mega Giro gefahren und besitzt großes Potenzial. Das sind die Ansätze, wir können schon jetzt eine Etappe gewinnen. Ich glaube auch, dass uns dies auch dieses Jahr bei der Tour gelingt. Da kann auch ein Mann wie Simon Geschke mal in eine Gruppe gehen. Die Möglichkeit ist immer da.

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SWR