In Baden-Württemberg wird die ambulante medizinische Versorgung zunehmend schlechter. Es fehlt vor allem an Nachwuchs. Was Kommunen unternehmen, um Hausärzte zu gewinnen.
Wer in Baden-Württemberg einen Facharzttermin sucht, muss oft lange warten. Häufig scheitert es aber schon an der hausärztlichen Versorgung. Im Land fehlen rund 960 Hausärztinnen und -ärzte, ein großer Teil der praktizierenden Hausärzte ist über 60 Jahre alt. Mit welchen Mitteln Kommunen und Kreise versuchen, die medizinische Versorgung dennoch aufrecht zu erhalten:
- Hausärzte und das Nachfolgerproblem
- Genossenschaftsmodell: Lösung für Ärztemangel?
- Stipendium als Ausweg: Medizinstudenten als zukünftige Hausärzte gewinnen
- Abtsgmünd: Neue Praxis ausgerechnet in der unterversorgtesten Region des Landes eröffnet
Es kommt nur selten vor, dass Hausarzt Berthold Hirsch derart verzweifelt nach einer Lösung für ein Problem sucht wie aktuell. Normalerweise beschäftigen den 65-Jährigen grippale Infekte oder der Impfpass seiner Patientinnen und Patienten im beschaulichen Kirchheim am Ries (Ostalbkreis). Es ist die Frage nach einem Nachfolger, die Hirsch umtreibt. Seit knapp zwei Jahren Suche gibt es keinen einzigen Interessenten. "Ich habe wenig Hoffnung, jemanden zu finden", sagt er ernüchtert.
Berthold Hirsch: Suche nach einem Nachfolger "fast aussichtslos"
Trotz seiner Bemühungen, in Krankenhäusern und bei Kolleginnen und Kollegen zu fragen, die Stelle online auszuschreiben und zu bewerben, ist die Resonanz mau. Immer wahrscheinlicher wird seine Vorstellung, dass er Ende des Jahres seine geliebte Praxis zuschließen muss. Und zwar für immer.
Fast 30 Jahre ist Berthold Hirsch hier nun schon Hausarzt. Dass seine Patientinnen und Patienten künftig vielleicht keinen Hausarzt mehr haben, empfindet er als bedrückend. "Klar, es ist extrem schwierig", gibt auch Kirchheims Bürgermeister Danyel Atalay (parteilos) zu. "Für viele Patientinnen und Patienten wird es eine extreme Umstellung sein, zumal es in der Umgebung jetzt nicht sonderlich gut ausschaut, was die hausärztliche Versorgung angeht", so Atalay.
Ärztemangel in Baden-Württemberg: 960 Hausärzte fehlen
Nicht nur auf der Ostalb wird händeringend nach Hausärztinnen und Hausärzten gesucht. Laut der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) ist die Zahl der offenen Hausarztsitze in Baden-Württemberg im Vergleich zum letzten Quartal sogar noch einmal gestiegen. Landesweit fehlen 960 Sitze im hausärztlichen Bereich. Die ambulante Versorgung stuft die KVBW in ihrem Versorgungsbericht 2023 auch deshalb als "extrem gefährdet" ein.
Die Vereinigung unterteilt Baden-Württemberg in sogenannte Planungsbereiche. So wird geregelt, wie viele Ärztinnen und Ärzte es in einer Region geben darf. Sind von einer Fachrichtung bereits genügend Medizinerinnen und Mediziner in einem Bereich, wird er gesperrt. Von den 103 Planungsbereichen, die es im Land für Hausärztinnen und Hausärzte gibt, sind derzeit elf gesperrt. Die restlichen 92 Planungsbereiche konkurrieren laut KVBW um den hausärztlichen Nachwuchs - der aber immer häufiger ausbleibt.
Warum der Hausarzt-Nachwuchs ausbleibt
Das Problem: Der Nachwuchs ist rar und der Arbeitsmarkt weitaus weniger umkämpft als früher. Zugleich ist im Schnitt jeder vierte berufstätige Arzt 60 Jahre oder älter. Laut der Landesärztekammer Baden-Württemberg mangelt es außerdem an Medizinstudienplätzen.
Nach Angaben der Kammer sank der Anteil der Ärztinnen und Ärzte unter 35 Jahren seit 1991 stetig. Damals waren rund ein Viertel der Ärzte unter 35. Jetzt sind es gerade mal noch 19 Prozent. Zunehmend gefragt sind laut der Landesärztekammer auch Teilzeit-Modelle. Das hänge unter anderem damit zusammen, dass die Medizin immer weiblicher werde. Ärztinnen und Ärzte wollen laut der Kammer immer häufiger Familie und Beruf unter einen Hut bringen.
Das Genossenschaftsmodell: Ein Rezept gegen Ärztemangel?
"Ärztinnen und Ärzte streben heute in vielen Fällen nicht mehr eine eigene Niederlassung an, sondern wollen lieber in Anstellung bei ausgeglichener Work-Life-Balance tätig sein", erklärt Tobias Langenbach von der Landesärztekammer. "Gerne ohne wirtschaftliche Verantwortung und ohne wirtschaftliches Risiko für eine Praxis." Als Hausarzt geht das im Grunde fast nur, wenn man sich als Angestellter einem Ärztehaus anschließt.
Im Landkreis Calw geht man seit 2019 diesen neuen Weg. Weg von der Selbstständigkeit und hin zur Anstellung von Ärztinnen und Ärzten in sogenannten Medizinischen Versorgungszentren. Der Landkreis gründete zusammen mit Medizinerinnen und Medizinern eine Genossenschaft, um die leeren Arztpraxen wiederzubeleben und die bestehenden zu erhalten. So müssen sich angestellte Ärztinnen und Ärzte zum Beispiel weniger um Bürokratie kümmern. Außerdem haben sie so weniger wirtschaftliche Unsicherheit. Auch im Schwäbischen Wald gibt es ein solches Konzept.
Wenn nicht einmal viel Geld hilft: Kein Arzt will nach Ittersbach
In Karlsbad-Ittersbach bei Karlsruhe versprechen Investor Hartmut Braun und die Gemeinde eine Prämie von 200.000 Euro, wenn sich ein Allgemeinmediziner im Ärztehaus niederlässt. Seit mittlerweile vier Jahren suchen sie hier schon vergeblich. "Jeder im Umkreis von 100 Kilometern [...] kennt das Objekt und sagt, das ist super [...]. Aber es kommt trotzdem niemand", sagt Braun.
Seit Frühjahr 2023 steht das Ärztehaus mit 4.000 Quadratmetern Fläche für verschiedene Medizinerinnen und Mediziner fast leer. Noch immer kam es nicht zu einem Mietvertrag - lediglich ein Zahnarzt und eine Pflegeeinrichtung sind im Haus.
Auch von Seiten des Landes Baden-Württemberg gibt es Geld für Medizinerinnen und Mediziner, die sich entscheiden auf dem Land zu arbeiten. Je nach Fall 10.000 bis 30.000 Euro, allerdings zweckgebunden, zum Beispiel für die Finanzierung von medizinischen Geräten. Laut dem Gesundheitsministerium des Landes wurden seit Beginn des Förderprogramms im Jahr 2012 mehr als 280 Ärztinnen und Ärzte mit insgesamt rund 5,5 Millionen Euro unterstützt.
Geld gibt es auch von der Kassenärztlichen Vereinigung. Für die Neugründung einer Arztpraxis fließen bis zu 80.000 Euro Zuschuss. Wer ein Medizinisches Versorgungszentrum gründet, erhält bis zu 120.000 Euro. Geld gibt es außerdem für die Anstellung von Ärzten: Laut KVBW bis zu 2.000 Euro pro Monat und Angestelltem.
Stipendium mit Verpflichtung: Milena Schurr muss Hausärztin werden
"Mir persönlich fällt es schwer nachzuvollziehen, warum junge Ärzte nicht aufs Land gehen", sagt Milena Schurr. Die Medizinstudentin ist eine von nur zwei Stipendiaten des Ostalbkreises. Sie bekommt für ihr Medizinstudium im rumänischen Cluj 500 Euro pro Monat als Zuschuss vom Landkreis. Dafür verpflichtet sie sich aber auch, nach dem Studium im Ostalbkreis Hausärztin zu werden.
"Als ich meinen Freunden davon erzählt habe, waren die Reaktionen schon eher durchwachsen", gibt die 26-Jährige zu. "Aber ich kann mir vorstellen, dass meine Freunde in ein paar Jahren, wenn sie genug von der Großstadt haben, ihre Meinung ändern". Ihr Traum: eine eigene Praxis in der Nähe von Aalen.
Landarzt-Stipendium auch im Neckar-Odenwald-Kreis erfolgreich
Im strukturschwachen Neckar-Odenwald-Kreis, einer der ärmsten Landkreise im reichen Baden-Württemberg, lockt man angehende potenzielle Landärztinnen und Landärzte seit einigen Jahren wie auch im Ostalbkreis mit einem Landarzt-Stipendium.
Marcel Wilke war so ein Stipendiat. Heute arbeitet er als Assistenzarzt in einem kleinen Krankenhaus in Mosbach. Durch das Landarzt-Stipendium hat Wilke nicht nur sein Studium finanzieren können: Der Landkreis und die Krankenhäuser kümmern sich darüber hinaus um die Vernetzung der Nachwuchskräfte. Bei regelmäßigen Netzwerk-Treffen können sich Stipendiaten wie Wilke mit Ärztinnen und Ärzten aus der Region austauschen, sie kennenlernen, vielleicht erste Kontakte für eine spätere Tätigkeit knüpfen. "Eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten", sagt der junge Assistenzarzt.
Oberarzt Christoph Ellwanger kümmert sich um die Stipendiaten. Er weiß, wie schwer es die ländliche Region hat, Ärzte herzulocken. Bisher ist das Landarzt-Stipendium laut Ellwanger ein großer Erfolg. Keiner der Stipendiaten sei bislang abgesprungen, alle hätten ihren Platz in der Region gefunden.
Abtsgmünd: Wenn sich das Landarzt-Problem fast von selbst löst
"Ich habe das Gefühl, es ist gut, dass ich hier bin, weil es etwas bewirkt und etwas ändern kann", sagte Hausärztin Özlem Akçay. Sie hat zusammen mit ihrem Kollegen Ahmet Gönen im Januar eine neue Praxis in Abtsgmünd im Schwäbischen Wald (Ostalbkreis) gegründet. Ausgerechnet im unterversorgtesten Gebiet in ganz Baden-Württemberg. "Wir waren uns dessen bewusst und haben gedacht: Wir wagen den Schritt. Wir merken, dass die Patienten dankbar sind. Das ist mir lieber als eine Ärztin in der Großstadt zu sein, wo ich eine von vielen bin", sagte Akçay selbstbewusst.
Die Resonanz der Abtsgmünderinnen und Abtsgmünder sei durchweg positiv. Viele hatten lange gar keinen Hausarzt mehr. "Schon am ersten Tag, als wir die Praxis eröffnet haben, sind die Menschen morgens um 8 Uhr vor der Tür gestanden, um sich anzumelden", erzählte Hausarzt Ahmet Gönen. Er könne sich auch gut vorstellen, sogar mit seiner Familie nach Abtsgmünd zu ziehen. Die Gemeinde denkt schon einmal einen Schritt weiter: Wenn alles klappt, soll möglichst ein Ärztehaus gebaut werden, um auch Fachärzte nach Abtsgmünd zu locken.
Versorgungsgrad im Schwäbischen Wald durch neue Praxis verbessert
Im Rathaus freut man sich natürlich über den medizinischen Zuwachs. "Es ist fast wie ein Sechser im Lotto, dass die beiden Ärzte jetzt in Abtsgmünd sind", sagt Bürgermeister Armin Kiemel (Freie Wähler Ostalb) mit einem Lächeln im Gesicht. Vor vier Jahren gab es in der 7.700-Einwohner-Gemeinde rechnerisch noch 4,5 Hausärzte. Nach mehreren Schließungen sank der Wert bis vor kurzem sogar auf 1,5.
Laut dem Landratsamt Ostalbkreis hat sich auch durch die neue Praxis in Abtsgmünd die Versorgungslage im Schwäbischen Wald verbessert. "Wir sind von einem Versorgungsgrad von 48 Prozent auf 68 Prozent hochgegangen", sagt Leonie Schönsee vom Gesundheitsamt des Ostalbkreises. Dennoch fehlen im Gebiet weiterhin neun Hausärzte in Vollzeit, um die Unterversorgung zu beenden.
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