Keine Katastrophe ohne Mahnmal: Erinnerungsorte gehören zur Verarbeitung von kollektiv erlebten Traumata dazu. Aber nicht jedes Denkmal wird angenommen, wie das Scheitern eines geplanten Denkmals im Ahrtal zeigt. Ohne das Mitwirken von Betroffenen fehlt den symbolträchtigen Orten die Seele.
Über die Bedeutung von Erinnerungsorten wie KZ-Gedenkstätten für unser kollektives Gedächtnis wurde viel geforscht. Abstrakte Zahlen und Fakten allein sorgen kaum dafür, dass ein Verständnis von Geschichte entsteht. Beim Erinnern geht es auch um die Rekonstruktion von Orten und Ereignissen.
Erinnerungsorte als kollektive Symbole
„Erinnerungsorte sind wichtige kollektive Symbole, die an gesellschaftlich wichtige Ereignisse erinnern und sich durch eine besondere Ästhetik im Stadtraum verankern“, sagt Thomas Thiemeyer, Professor für empirische Kulturwissenschaft am Ludwig-Uhland-Institut der Universität Tübingen – hier forscht er zu Erinnerungskultur.
Über Mahnmale und Gedenkstätten dagegen, die Zeugnis aktueller Katastrophen sein sollen, wird häufig gestritten. Jüngstes Beispiel: Im Ahrtal will der Bonner Künstler Babak Saed mit einem Schriftzug an die Flutkatastrophe von 2021 erinnern. Über dem Dorf Marienthal würde er gern den Schriftzug „ICHERINNEREMICH“ aufstellen, in weißen Großbuchstaben aus Metall.
Aber viele Betroffene wollen diese Art der Erinnerung dort nicht jeden Tag vor Augen haben. Der Künstler muss nach einem neuen Erinnerungsort suchen.
Erinnern an zeitgenössische Katastrophen schwierig
Einen zentralen Gedenkort für die Opfer der Flutkatastrophe gibt es bislang nicht – an vielen Orten im Ahrtal wird der 135 Todesopfer auf unterschiedliche Weise gedacht. Der Wunsch der Betroffenen, sich zu erinnern, ist da. An vielen Orten sollen Flutkapellen entstehen, Bürgerinitiativen planen Projekte, bei denen Betroffene Denkmale mitgestalten können.
Dennoch: Mahnmale für zeitgenössische Katastrophen wie Amokläufe oder Attentate sind heikel. Viele sehen in der Einrichtung solcher Erinnerungsorte den letzten Schritt der Aufarbeitung – das Ende eines Prozesses, dem jede Menge psychologische und soziale Arbeit vorausgegangen ist. Das kann Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern.
Erinnerungsorte verändern sich
Die Zeit muss reif sein, die Auseinandersetzung mit einem kollektiven Trauma in Form einer Ästhetik im öffentlichen Raum sichtbar zu machen und damit ein Stück weit auch mit dem Thema abzuschließen. Man könnte argumentieren, so Kulturwissenschaftler Thiemeyer, dass in dem Moment, in dem ein Denkmal gebaut wird, der Prozess des Aufarbeitens abgeschlossen ist. Er dagegen ist der Überzeugung, dass die Setzung eines Denkmals immer Teil des Verarbeitens ist – ob es nun früher oder später in dem Prozess passiert.
Mahnmale sollen immer auch politische Botschaften transportieren. Auch wenn das historische Urteil erst mit weitem Abstand fällt. Wo es politisch werde, seien immer auch Interessen im Spiel, so Thiemeyer, das mache es oftmals schwierig. Deshalb erlebe man jetzt auch, dass Mahnmale, die vor vielen Jahren im Geiste der Zeit entstanden sind, heute mit ihrer Botschaft in Frage gestellt werden.
Mahnmal beinhalten immer eine politische Dimension
Die Erinnerungsorte mahnen. Wie entscheidend da die Ausgestaltung sein kann, zeigt sich beispielsweise an dem Denkmal „Für Euch“, das an das rechtsextreme Attentat am Olympia Einkaufszentrum in München mit neun Mordopfern 2016 erinnern soll.
Die bayrischen Landesbehörden schlossen eine politisch motivierte Tat zuerst aus, obwohl es von Anfang an Hinweise auf die rechtsextreme Gesinnung des 18-jährigen Täters gab. Der Erinnerungsort wurde 2017 eingeweiht, in der Inschrift wurde die Tat zunächst als „Amoklauf“ bezeichnet.
Erst drei Jahre nach der Tat revidierte das bayrische Innenministerium seine Einschätzung und wertete den Anschlag als rassistisch motivierte Tat. 2020 wurde die Inschrift geändert: Ein wichtiger Schritt für die Hinterbliebenen, weil erst dann nach ihrem Empfinden „richtig erinnert“ wurde.
Welche Erinnerungsorte werden akzeptiert?
Aber: Wovon hängt es ab, dass Gedenkorte aktueller Katastrophen angenommen werden?
Grundsätzlich müsse man trennen, ob es sich um Erinnerungsorte handele, die an eigene Schuld und Verbrechen erinnern – so wie die Judenvernichtung – mit der man erst einmal ins Reine kommen muss, bevor man ein öffentliches Symbol in Form eines Mahnmals dafür findet, sagt Kulturwissenschaftler Thomas Thiemeyer von der Universität Tübingen.
Anders sei es beispielsweise bei Naturkatastrophen, die sozusagen geteiltes Leid für alle waren. Hier haben die Menschen oft ein unmittelbares Bedürfnis, an die einschneidenden Erlebnisse in Form von öffentlich sichtbaren Symbolen zu erinnern.
Das Hochwasser im Ahrtal ist eine Katastrophe, die in Deutschland unvergleichlich ist. Andere zeitgenössische Mahnmale erinnern an konkrete menschenverursachte Katastrophen, beispielsweise Amokläufe oder Anschläge.
Gut funktionierende Mahnmale: Sensibel gestaltet und unter Beteiligung der Angehörigen
Aktuell entsteht eine Gedenkstätte für die Opfer der Amokfahrt in der Fußgängerzone in Trier im Dezember 2020. Fünf Menschen waren damals gestorben, viele weitere verletzt worden. Im Oktober 2021 war ein weiterer Mann verstorben, der bei der Tat schwer verletzt worden war.
Der Täter ist im August 2022 wegen mehrfachen Mordes und mehrfachen versuchten Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Das Gericht stellte zudem die besondere Schwere der Schuld fest und ordnete wegen einer psychischen Erkrankung des Mannes dessen Unterbringung in einem geschlossenen psychiatrischen Krankenhaus an.
Sechs Bronze-Stelen sollen im Frühjahr 2024 nahe der Porta Nigra aufgestellt werden und an die Opfer erinnern: Eine sehr viel konkretere Erinnerung an die Toten als der geplante Schriftzug in Großbuchstaben im Ahrtal.
Es gibt bereits eine Gedenktafel – das Wort „Amokfahrt“ sollte bewusst nicht darauf auftauchen. Und auch die Tafeln aus Bronze, die im Boden in der Fußgängerzone eingelassen werden sollen, wurden nach Wünschen der Betroffenen mit einem Künstler gestaltet. Einen Gedenkort anlegen, das funktioniere nur, wenn Überlebende und Hinterbliebene bei der Gestaltung großes Mitspracherecht haben, da ist man sich in Trier einig. So bekommt das Mahnmal „eine Seele“, heißt es von der Stiftung Katastrophen-Nachsorge.
In Winnenden und Trier beteiligen sich Betroffene an der Gestaltung
Auch in der baden-württembergischen Kleinstadt Winnenden in der Region Stuttgart wurde ein Erinnerungsort geschaffen, der funktioniert. Im Stadtgarten erinnert die acht Tonnen schwere Skulptur „Gebrochener Ring“ an die 15 Opfer des Amoklaufs an einer Realschule 2009.
Ein 17-Jähriger hatte damals an seiner ehemaligen Schule neun Jugendliche und drei Lehrerinnen erschossen. Auf seiner Flucht tötete er drei weitere Menschen, bevor er sich selbst erschoss. Der Gedenkort wurde knapp fünf Jahre nach der Tat eingerichtet. Durch einen engen Bruch ist der Ring begehbar, innen sind die Namen der Opfer und ein Gedicht zu lesen.
An der Auswahl des Kunstwerks waren wieder Hinterbliebene der Opfer beteiligt. Der Ring solle vor der Wiederholung einer solchen Tat warnen und zugleich die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft ausdrücken, heißt es damals in einer Erklärung der Stadt.
Tat vor genau 14 Jahren Gedenken an die Opfer des Amoklaufs von Winnenden
Der Amoklauf von Winnenden (Rems-Murr-Kreis) und Wendlingen (Kreis Esslingen) hat vor genau 14 Jahren das ganze Land erschüttert. Rund 150 Menschen haben am Samstag der Opfer gedacht.
Ein Gedenkort darf nicht polarisieren
Ein guter Erinnerungsort hilft bei der psychologischen Aufarbeitung eines Ereignisses. Die Ästhetik eines Mahnmals, so Kulturwissenschaftler Thomas Thiemeyer, sollte versöhnlich wirken und nicht polarisieren.
Vielleicht liegt genau da das Problem der plakativen – und vielleicht auch als provokativ wahrgenommenen – Gestaltung des geplanten Denkmals von Babak Saed im Ahrtal. Die Symbolik sollte klar sein. Vor allem sollte das Mahnmal die Bedürfnisse der Hinterbliebenen und Opfer berücksichtigen, sodass diese sich auch repräsentiert fühlen.
Im Idealfall sollte der Erinnerungsort nicht nur zum Gedenken anregen – sondern zum Nachdenken ganz allgemein und auch nach Jahren noch als etwas Besonderes wahrgenommen werden.
Erinnerung an den Amoklauf in Winnenden
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