Am 11. März 2009 geschieht in Winnenden das Unfassbare: Ein 17-Jähriger geht bewaffnet in seine ehemalige Schule und richtet ein Blutbad an. Die Tat erschüttert ein ganzes Land.
Es ist etwa halb zehn am Morgen, als ein junger Mann in schwarzem Tarnanzug die Albertville-Realschule in Winnenden betritt. Es ist der ehemalige Schüler Tim K., gerade 17 Jahre alt. Im ersten Stock geht er in ein Klassenzimmer, zieht eine großkalibrige Pistole und eröffnet das Feuer. Er zielt auf die Köpfe der Schülerinnen und Schüler, allein in diesem Raum tötet er fünf Menschen.
Um 9:33 Uhr geht der erste von vielen Notrufen bei der Polizei ein. Fünf Minuten später kommen drei Polizisten an der Schule an. Sie sind normale Streifenbeamte, haben aber ein Training für Extremsituationen wie diese absolviert. Ohne zu zögern gehen sie in die Schule. Der Amokläufer richtet unterdessen ein Blutbad an. Sechzig Mal drückt er ab. Er tötet insgesamt acht Schülerinnen und einen Schüler im Alter von 15 bis 17 Jahren. In einem Chemieraum erschießt er eine Lehrerin und tötet zwei weitere Lehrerinnen auf dem Flur.
Die Polizei stürmt das Elternhaus des Täters
Als der Amokläufer die Polizisten bemerkt, schießt er auf sie und flieht aus dem Gebäude. Später wird die Polizei herausfinden, dass er zu diesem Zeitpunkt noch rund 220 Schuss Munition übrig hat. Der Täter läuft in Richtung Innenstadt. Am Zentrum für Psychiatrie erschießt er einen Gärtner, wohl ein Zufallsopfer.
Die Polizei leitet eine Großfahndung ein und zieht mehr als 800 Einsatzkräfte zusammen. Das Schulzentrum um die Albertville-Realschule und Teile der Innenstadt werden abgeriegelt. Spezialeinheiten stürmen das Elternhaus des Amokläufers. Der Vater ist im Schützenverein und besitzt legal mehrere Waffen. Bei der Durchsuchung fehlt eine 9-Millimeter-Pistole vom Typ Beretta: die Tatwaffe.
Die Flucht endet an einem Autohaus in Wendlingen
Währenddessen kidnappt der Amokläufer auf einem Parkplatz einen 41-jährigen Autofahrer und zwingt ihn mit vorgehaltener Waffe loszufahren. Eine rund zweistündige Irrfahrt endet schließlich im 40 Kilometer entfernten Wendlingen im Kreis Esslingen. An einer Kontrollstelle der Polizei setzt der Autofahrer seinen Wagen in einen Grünstreifen und springt aus dem noch rollenden Auto. Er kann in Richtung eines Streifenwagens flüchten. Der Amokläufer rennt zu Fuß weiter bis er an einem Autohaus ankommt. Als er dort nicht sofort einen Fluchtwagen bekommt, erschießt er einen Verkäufer und einen Kunden. Dann verlässt er das Gebäude. Draußen erwartet ihn die Polizei.
Bei dem folgenden Schusswechsel verletzt der 17-Jährige zwei Beamte schwer. Schließlich wird er von einer Kugel am Bein getroffen. Er hockt sich hin, lädt die Waffe durch und hält sie sich an den Kopf. Dann drückt er zum hundertdreizehnten und letzten Mal an diesem Vormittag ab. Damit endet der Amoklauf von Winnenden. Innerhalb von drei Stunden hat der Täter fünfzehn Menschen und sich selbst getötet und dreizehn Menschen teils schwer verletzt.
Winnenden zwischen Trauer und Medienrummel
Zurück bleiben traumatisierte Überlebende und Angehörige, die nach und nach vom Tod ihrer Kinder, Geschwister oder Freunde erfahren. Medien aus der ganzen Welt fallen in der kleinen Stadt im Rems-Murr-Kreis ein. Nicht alle Reporter verhalten sich anständig, halten Betroffenen teilweise rücksichtslos die Kameras ins Gesicht. Die Überforderung ist auf allen Seiten zu spüren. Die Schüler der Albertville-Realschule wehren sich, hängen ein Plakat ins Fenster eines Klassenzimmers: "Lasst uns in Ruhe trauern."
Mit den Jugendlichen und den Familien trauern die ganze Stadt und das ganze Land. Zu einer zentralen Trauerfeier am 21. März kommen tausende Menschen nach Winnenden, darunter auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der damalige Bundespräsident Horst Köhler. "Ganz Deutschland trauert mit Ihnen", sagt Köhler in seiner Ansprache zu den Angehörigen. "Sie sind nicht allein." Außerhalb der vollen Kirche wird die Gedenkfeier auf Großleinwänden übertragen.
Die Suche nach Antworten
"Fassungslos, entsetzt und ratlos stehen wir da", sagt der damalige Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU), als er sich in Winnenden in das Kondolenzbuch einträgt. "Wir haben keine Antwort." Nach Antworten suchen damals vor allem die Eltern der ermordeten Schülerinnen und Schüler. Ihre Fragen richteten sich in erster Linie an den Vater des Täters, aus dessen Waffe die tödlichen Schüsse abgefeuert wurden. Doch die Eltern stellen nicht nur Fragen, sie erheben auch Forderungen. Sie gründen ein Aktionsbündnis und drängen auf eine Verschärfung des Waffenrechts – und einen Prozess gegen den Vater des Amokläufers.