Anonym und gemeinsam verfasste Texte

Kollektivroman „Wir kommen” – 18 Autor*innen schreiben anonym über Lust und Alter

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AUTOR/IN
Kristine Harthauer
Kristine Harthauer, SWR2 Autorin und Moderatorin

18 Autor*innen haben sechs Wochen lang einen gemeinsamen Text über weibliches Begehren, Sex und Alter geschrieben – ohne Regeln und völlig anonym. „Wir waren überwältigt, was für intime Dinge uns in diesem Text anvertraut wurden“, sagt Julia Wolf vom feministischen Literaturkollektiv Liquid Center, das den Kollektivroman „Wir kommen” initiiert hat.

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Ein literarisches Experiment

„In diesem Dokument gab es keine Regeln, außer: Es darf nichts gelöscht werden, was man nicht selber geschrieben hat“, sagt Julia Wolf. Sie ist eine der drei Herausgeberinnen des Kollektivromans „Wir kommen“. 18 Autor*innen haben in sechs Wochen an ihm geschrieben.

Die einzige inhaltliche Vorgabe war die Anfrage an die Autor*innen, über weibliches Begehren, Sex und Alter zu schreiben. „Wir haben am ersten Tag, als dieses Google Dokument geöffnet wurde, noch überlegt, ob wir irgendeinen Anfang machen sollen. Dann haben wir uns dagegen entschieden und waren aufgeregt. Dann hat aber jemand innerhalb einer Viertelstunde etwas geschrieben und es ging los.“

Autorin: Prolog. Ein Foto: Nahaufnahme meiner weißen Bettdecke, die Falten schlägt. Zentral im Bild ein zartrosa Objekt aus Glas, durchsichtig. Der Arm eines Oktopusses, dessen Zipfel sich anmutig ringelt. Die von der Betrachterin aus gesehen rechte Seite des Objektes zieren weiße Noppen. Wer hat Bock?
Autorin: Ich. 
Autorin: Oh ja, ein Oktoflirt, ein Krakentanz.
Autorin: Ich hätte gern so viele Arme zur Verfügung. Oder Zungen. 
Autorin: Ich wäre gern so glitschig. Und klug.

Olga Grjasnowa, Sirka Elspaß und Kim de l’Horizon sind dabei

Von geheimen Fantasien erzählen die 18 Autor*innen. Aber auch von ihrem Körpergefühl, von lust- und angstvollen Erlebnissen. Unter ihnen bekannte Namen wie Ulrike Draesner, Olga Grjasnowa, die Lyrikerin Sirka Elspaß und Buchpreisträger*in Kim de l’Horizon.

Viele der Text stehen für sich, wie Erzählungen oder intime Berichte. Oft greift die nächste ein Thema auf und führt es weiter, ab und an kommt es auch zu kleinen Dialogen, Rückfragen und Kommentaren.

Anonymität sorgt für intime Texte

Auch Gedichte finden sich in diesem Kollektivroman. Wobei der Fokus eher auf „Kollektiv“ als auf „Roman“ liegt: Es gibt keine Erzählerstimme oder Figuren, die durch die sehr persönlichen Themen führen.

„Wir kommen“ hat etwas von einem vielstimmigen Chor, bei dem die einzelne Stimme oder Textpassage nicht einer Autorin zugeordnet werden kann. Diese Anonymität sei bei diesem schambehafteten Thema ein großer Vorteil, sagt Julia Wolf:

„Es hat die Offenheit sehr gefördert und wir waren überwältigt, was für intime Dinge uns in diesem Text anvertraut wurden. Ich glaube, wenn man Standing im Literaturbetrieb hat, dass man dann bestimme Sachen nicht sagen würde.“

Ich gehe auf die Wechseljahre zu und merke, wie sich mein Geruch verändert. Das verunsichert mich. Ich merke, wie ich anderen Frauen hinterherschnüffle, bei Umarmungen, im Vorbeigehen. Wenn ich auf öffentlichen Toiletten in die Geruchswolken anderer trete, atme ich tief ein: Urin, Schweiß, Parfum. Was noch? Was noch? Ich werde zur Hündin.

Vielfältige Sichtweisen auf Sexualität

Von Ende zwanzig bis Mitte achtzig reicht die Altersspanne der Autor*innen. Ebenso breit und vielseitig sind die Sichtweisen auf Themen wie sexuelle Selbstbestimmung, Lust, Körper und Alter.

Mit viel Verständnis für Dramaturgie und Spannung haben Julia Wolf und ihre Kolleginnen die Textmasse collagiert und dabei einen eigentümlichen Sog erzeugt. Selten bekommt man derart persönliche Einblicke, die zeigen: Die Einzelne ist mit ihren Wünschen, aber auch mit ihren Unsicherheiten nicht allein.

Scham überwinden heißt Strukturen überwinden

Und das ist die Stärke dieses einzigartigen Projektes: In einer Zeit, in der rechte und antifeministische Strömungen die Politik und das gesellschaftliche Klima prägen, in der Abtreibungsrechte für Frauen eingeschränkt werden und queerfeindliche Übergriffe zunehmen, nimmt „Wir kommen“ auf intime, aber spielerische Weise die Scham, die über allem liegt, was mit Körper und Sex zu tun hat. 

„Scham wirft uns immer auf uns selbst zurück“, sagt Julia Wolf. „Wenn wir sie überwinden, können wir ganz anders in den Austausch mit Menschen treten und unsere Kräfte bündeln – als Frauen, als weiblich gelesene Personen, um Strukturen zu überwinden.“ 

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