Die Demenz eines Familienmitglieds verändert das Leben aller Angehörigen. Ein ehrlicher, kluger und emotionaler Erfahrungsbericht einer Mittfünfzigerin, die ihren Mann an Alzheimer verlor.
Wenn jemand in der Familie an Demenz erkrankt, dann nimmt das pflegende Angehörige auf eine Weise mit, die sich anfühlt wie ein Systemwechsel – vorher Teil der Leistungsgesellschaft, jetzt im Hilfebetrieb. Sie treten beruflich kürzer und versuchen die Peinlichkeit eines entgleisenden Menschen vor der Welt draußen so gut es geht zu verbergen.
Wenn die Zeit kommt, wo der Demente die Toilette nicht mehr findet, erkundigen sie sich nach einem Platz im Heim. Sie erfahren, dass sie dafür ihr Erspartes drangeben müssten. Ein Heim ist teuer. Spätestens an diesem Punkt kann die Beziehung zum Kranken bitter werden. Die Demenz eines Familienmitglieds, so stellt sich das für pflegende Angehörige nicht selten dar, erfordert ihre Selbstaufgabe.
Ein kluger Erfahrungsbericht über Alzheimer
Die Autorin dieser Zeilen kennt diesen üblichen Gang der Dinge aus eigener Erfahrung. Deshalb ihre Freude über das Buch „Lückenleben“ von Katrin Seyfert, die ihre höchst lebendigen, wütenden, klugen Erfahrungsberichte über die Alzheimerdemenz ihres Mannes erst im Magazin „Der Spiegel“, nun aber in ausgeweiteter Form als Buch veröffentlicht.
Freude deshalb, weil bei Katrin Seyfert von Selbstaufgabe keine Spur ist. Sie nennt ihre Gefühle beim Namen. Als Journalistin weiß sie, dass eine ehrliche Sprache Ordnung schafft, die Halt verleihen kann.
Das wertvollste Gefühl war die Wut
Für die Mittfünfzigerin war eines der wertvollsten Gefühle in dieser Zeit ihre Wut:
„Wut hat ja was sehr Lebendiges. Ich hatte nie Wut auf die Krankheit, auch nicht auf meinen Mann, auf keinen Fall. Aber auf so verschiedene Konventionen und Erwartungshaltungen.“
Wut auf die Begutachterin der Krankenkasse, die ihren Mann runterputzte; Wut auf Ärzte, die kein Mitgefühl aufbrachten; Wut auf Freunde, die ihr einen baldigen Burnout prophezeiten. Katrin Seyfert kämpfte darum, die schweren Jahre mit ihrem Mann Mark mit Anstand durchzustehen, aber sie kämpfte nicht allein.
„Wir hatten drei kleine Kinder, die mussten versorgt werden. Wir hatten einen Hund. Wir hatten einen Alltagshelfer. Wir hatten einen Studenten, der bei uns gewohnt hat. All die brauchten Unterstützung, um den Alltag so strukturiert zu bekommen, dass er für uns als Familie gepasst hat.“
Wertvolle Ideen und Impulse für alle, die mit Demenz konfrontiert sind
Der Oberarzt, der die Diagnose stellte, erschreckte sie mit der Bemerkung, sie solle sich drauf vorbereiten, dass sich binnen eines Jahres ihr Freundeskreis halbieren würde. Von Anfang an bemühte Katrin Seyfert sich darum, dass das nicht passierte.
Einmal monatlich lud sie zu Hausmusik, Abende mit Schlagern, bei denen Mark mitsingen, mitsummen, mitwippen konnte. Nachbarn kochten Erbsensuppe. Marianne von nebenan gab den Kindern umsonst Klavierunterricht. Das Geld war knapp. Viele halfen, manchmal auch Leute, von denen Katrin Seyfert es nie gedacht hätte.
„Ich weiß, dass ein halbes Jahr nachdem mein Mann gestorben ist, ich bei Penny eingekauft habe. Und die Filialleiterin sagte: Och, Ihr Mann hat ja hier auch hin und ab englisch eingekauft, also hat was geklaut, ohne dass er das wusste. Das haben wir dann einfach mal so durchgehen lassen, ich hab das als Warendiebstahl deklariert. Und das hat mich wahnsinnig gerührt, dass ich selbst von der Filialleitung eines Supermarktes Hilfe angeboten bekommen habe.“
2022 starb ihr Mann. Sie sei noch nicht ganz runter vom Adrenalin, sagt die Autorin. Noch heute habe sie das Gefühl, ein Tag ohne Katastrophe sei ein komischer Tag. Das Buch „Lückenleben. Mein Mann, der Alzheimer, die Konventionen und ich“ wirft für jeden, der sich für Demenz interessiert oder mit Dementen Umgang hat, Impulse und wertvolle Ideen ab. Es bringt zum Lachen und zum Weinen. Und zwar auch Leser, die ganz anders gestrickt sind als Katrin Seyfert.
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Kollektives Bedrohungsgefühl „Zeit der Verluste“ – Buch von Daniel Schreiber über den Umgang mit verlorenen Sicherheiten
Wir befinden uns in einer Zeit um sich greifender Verluste, sagt Daniel Schreiber, Autor des Buches „Zeit der Verluste“, in SWR2. Das Bedrohungsgefühl, dass wir heute spürten, sei so groß, wie noch nie für die meisten von uns zu unseren Lebzeiten. Darüber müssten wir nachdenken und dieser Situation mit einer „inneren Trauerarbeit" begegnen, so der Aufruf des Autors.
lesenswert Feature Demenz-Romane – Vom Erinnern und Vergessen
Berührend erzählen die Schriftsteller Arno Geiger und David Wagner von den Demenzerkrankungen ihrer Väter. Sie sprechen über neue Nähe und Schuldgefühle, über Schmerz und Verlust. Die Fotografin Wiebke Loeper dokumentiert die Einsamkeit ihrer demenzkranken Großmutter, anhand bewegender Notizzettel. Bücher, die von Demenz erzählen, können uns ein Gefühl davon vermitteln, was die Krankheit für alle bedeutet.