Buchkritik

Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz

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AUTOR/IN
Jörg Schieke

Ein berührender Coming-of Age-Roman des Literaturnobelpreisträgers. Auf der zu Tansania gehörenden Insel Sansibar wächst der Junge Salim in den 70er Jahren auf und erlebt große Umbrüche zwischen Revolution und Gewalt. Ein Roman über den Einfluss der Geschichte auf unser Leben.

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Abdulrazak Gurnah verschränkt die Geschichte eines Jungen aus der muslimisch-arabischen Minderheit im Sansibar der 1970 er Jahre mit der dazugehörigen nationalen Geschichte Tansanias und Sansibars - der Heimat auch des Autors Abdulrazak Gurnah.

Bevor ihm die Dinge entglitten waren, hatte mein Vater jahrelang im Büro der Wasserbehörde in Gulioni gearbeitet. Jobs in der öffentlichen Verwaltung waren sicher und hoch angesehen. Ich war damals noch jung und kenne diesen Abschnitt seines Lebens nur aus Erzählungen. In meinen späteren Erinnerungen arbeitet er an einem Marktstand oder sitzt untätig in seinem Zimmer herum. Sehr lange hatte ich keine Ahnung, was schief gelaufen war, und nach einer Weile fragte ich nicht mehr nach. Es gab so vieles, was ich nicht wusste. 

Revolutionäre Umbrüche in Tansania

Es ist ein nüchterner, dem realen Ereignis und dem Alltag folgender Ton. Mit dem Fortgang des Romans, mit dem Älterwerden seiner Figuren greifen die politischen Ordnungen immer unerbittlicher auch nach der Familie des Erzählers.

Nachdem die Kolonialmächte Mitte der 1960er Jahre vertrieben sind, gerät Tansania in immer neue politische Konstellationen mit stets anderen Gewinnern oder Verlierern. Auch die Eltern des Erzählers bewegen sich in einem Kreislauf aus Täuschung und Verrat – und dort, wo einer gerettet wird, muss an anderer Stelle dafür bezahlt werden.

Die revolutionären Umbrüche verwirklichen sich auch im gnadenlosen Zugriff auf Liebesbeziehungen und Familien. Die Leidenszeit ist mit dem Abzug der Kolonialmacht nicht zu Ende:

Die neuen Machthaber taten sich dabei besonders hervor, stellten den Frauen, die sie begehrten, ungeniert nach und mussten kaum befürchten, irgendwen damit zu verletzen. Oder vielleicht gingen sie absichtlich indiskret vor, gerade um andere zu verletzen, so wie ein Mann den geschlagenen Rivalen demütigt, indem er dessen Mutter, Schwester oder Frau respektlos behandelt. Sie prahlten mit ihren Eroberungen und der angerichteten Verwüstung, belegten einander mit Namen aus dem Tierreich und lachten sich über die eigenen Frivolitäten kaputt. 

Studium in Großbritannien

Nur wenn die Mutter des Erzählers sich mit einem der Machthaber einlässt, kann sie ihren in Ungnade gefallenen Bruder retten, zerstört damit aber ihre eigene Familie. Diese Tragödie, die Kindheit und Jugend des Erzählers mit der zerstörten Liebe seiner Eltern, aber auch die in die Köpfe eingepflanzten rassistischen Muster zwischen den einzelnen Communities - all das wird aus der Perspektive des nunmehr Erwachsenen zusammengetragen, erzählt und neu gedeutet.

Als der Erzähler schließlich zum Studium nach Großbritannien geht - wir sind in den 1980er Jahren - steuert er zugleich auf seine intellektuelle und emotionale Befreiung zu: Er erkennt, dass an ihm wiedergutgemacht werden soll, was seinen Eltern einst angetan wurde.

Gurnahs Ich-Erzähler, zumindest ein Stück weit, kann aus diesen Zwängen ausbrechen, und er bricht aus dem für ihn vorgesehenen Lebensplan aus: Schriftsteller will er werden, nicht Manager oder Politiker. 

Einige der Texte, die ich fürs Studium lesen musste, befremdeten mich durch ihre zur Schau gestellte Kunstfertigkeit, ihre gnadenlose Besserwisserei und ihre, wie mir damals schien, absolute Sinnlosigkeit. Andere konnte ich beim besten Willen nicht verstehen, und dann schwankte ich zwischen Bewunderung und Verachtung für diese Leute, die ihr Leben lang an Artefakten von überbordender Hässlichkeit gefeilt hatten. Als ich später selbst zu schreiben anfing, stellte ich fest, dass ich anscheinend doch etwas gelernt hatte, dass der Weg sich mir langsam offenbarte.

Eine wahrhaftige Geschichte in unprätentiöser Sprache

So einfach die Sprache und der Stil des Nobelpreisträgers auch erscheinen mögen - Gurnah zieht seine Leserschaft um so nachdrücklicher in seinen Roman mit hinein. Der unprätentiöse Stil beglaubigt die Wahrhaftigkeit dieser Geschichte, und mit der stilsicheren Übersetzung von Eva Bonné ist das nun auch in Deutschland nachzulesen.

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