Buchkritik

Christine Koschmieder – Schambereich. Über Sex sprechen

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AUTOR/IN
Nina Wolf

Christine Koschmieder wagt erneut eine Selbsterfahrung. Schrieb sie in „Dry“ von ihrer Alkoholsucht, widmet sie sich in ihrem neuen Buch „Schambereich“ den Themen Sex, Intimität und Partnerschaft. Dafür geht sie auf die Suche nach dem Ursprung ihrer Scham. Gelingt es ihr, sie zu überwinden?

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Sie sollten sich schämen!

Also, nicht, weil Sie etwas Falsches getan oder gesagt haben, sondern weil die Scham tatsächlich sinnvoll sein kann. Das schreibt Christine Koschmieder in ihrem neuen Buch. „Schambereich“ heißt es und direkt zu Beginn führt die Autorin drei Funktionen des Schämens auf.

Nummer eins: Mit Scham behält die Gesellschaft ihre Ordnung. Keiner schämt sich gerne, und das reicht, damit niemand aus der Reihe tanzt. Schäm Dich, das ist eine Drohung, das übt Druck aus. Grund Nummer zwei: Die Scham beschützt uns. Unsere Schamgrenze markiert das, was wir als schützenswert empfinden. In Grund Nummer drei geht es um …

„Den Teil, der mit Bindung und Ver-Bindung zu tun hat. Die neuere Forschung interessiert sich für den Zusammenhang zwischen Kontaktbedürfnis und Bindung von Säuglingen zu einer Kontaktperson und datiert das Entstehen von Schamgefühl auf den Entwicklungszeitraum zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr – auf den Zeitpunkt, ab dem Kinder kognitiv in der Lage sind, zwischen sich und anderen Menschen zu unterscheiden. Es handelt sich dabei um eine Scham, die mit Zurückweisung einhergeht.“

Die Schamgrenze einreißen

Christine Koschmieder hat es sich selbst zur Aufgabe gemacht, ihre Scham zu überwinden. Die Scham, über Sex zu reden. Die Scham, ihre Bedürfnisse gegenüber ihren Sexualpartnern auszusprechen. Die Scham, die sie daran hindert, echte Intimität zu erleben.

In „Schambereich“ schreibt sie über diesen Selbstversuch. Dafür macht sich die Autorin auf die Suche nach den Ursprüngen ihrer Scham, ihres Körperbildes und begibt sich in ihr, Zitat: „Sumpfgebiet der Seele“. Diese Suche führt Christine Koschmieder in ihre Kindheit und Jugend:

„Als ich neun oder zehn bin, höre ich zum ersten Mal den Vergleich von Brüsten mit einem Bügelbrett. Er kommt von meiner Mutter, und es sind ihre eigenen Brüste, über die sie spricht, und offensichtlich ist das nichts, was man sein will. Flach wie’n Bügelbrett.
Die anderen zweidimensionalen Brüste, die ich sehe, sind auf der Titelseite einer Illustrierten. Genauer gesagt: Brüste, die ich nicht sehe. Weil meine Großmutter sie mit Leukoplaststreifen abgeklebt hat.“

Koschmieder schreibt über Erziehung, Sozialisation, die Lektüre der Jugendzeitschrift Bravo und das Aufwachsen in der BRD der 70er Jahre, geprägt von der Prüderie der Nachkriegselterngeneration und dem Kontrastprogramm der sexuellen Revolution der 68er. Es sind ihre ganz eigenen Erfahrungen, die Koschmieder in „Schambereich“ aufarbeitet. Da werden Sexualität, Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbrüche, Partnerschaft, auch der Tod ihres Mannes Revue passiert. Koschmieder befragt für ihre Recherche eine OnlyFans Darstellerin. Sie berichtet von ihren Sitzungen mit einer Sexualtherapeutin. Es sind diese persönlichen Zugänge und Erlebnisse, die sie fragen lassen:

„Was hat mich vor zwei Jahren dazu gebracht, mich der Scham zu stellen und öffentlich auszusprechen, dass ich ein Suchtproblem habe und in eine Suchtklinik gehen werde? Die Entscheidung fing mit der Frage nach den Konsequenzen an. Was passiert eigentlich, wenn ich aufhöre, vor der Scham davonzulaufen?“

Der Weg aus der Alkoholsucht: „Dry“

Die Wahl-Leipzigerin Koschmieder ist Autorin und Literaturagentin. Und sie ist trockene Alkoholikerin. Über das Trinken und ihren Weg aus der Sucht schrieb sie im 2022 erschienen „Dry“. Der Alkoholmissbrauch steht für sie in direktem Zusammenhang mit ihrem Umgang mit ihrem Körper und damit auch mit ihrer Fähigkeit Intimität zu erleben – oder ebendies gerade nicht. „Schambereich“ knüpft an vielen Stellen an seinen Vorgänger an.

„Auch Suchtverhalten wird oft als Instrument der Schamabwehr angeführt, was auf der Hand liegt, wenn ich bedenke, dass Alkohol vor allem eingesetzt wird, um bestimmte Gefühle nicht aushalten zu müssen. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um zu erkennen, dass ich mich nicht nur für mein Trinken schäme, sondern dass ich trinke, um mich bestimmten Gefühlen nicht aussetzen zu müssen.“

Während „Dry“ als autofiktionaler Roman erschien, ist „Schambereich“ eine Mischung aus Memoire und erzählendem Sachbuch. Die Geschichten über Koschmieders Erfahrungen bestechen, ähnlich wie schon bei „Dry“, durch ihren schonungslosen Blick auf sich selbst.

Besonders spannend sind die interessanten Theorien, die Koschmieder auf den knapp 180 Seiten versammelt. Mithu Sanyal, Lea Schneider oder die Schamforscherin Brené Brown werden fleißig zitiert, die Crème de la Crème der feministischen Theorie kommt zu Wort, etwa Margarete Stokowski oder Laurie Penny.

Sie zieht Szenen aus Film und Fernsehen, genau wie Passagen aus Songs heran, mit denen sie die Kapitel überschreibt. Das ergibt einen humorvollen und lockeren Mix aus Theorie und Popkultur.

Feuilleton und OnlyFans

Es ist eben auch ein zeitgeistiges Thema, Sex und Scham. Nicht umsonst ist „Das Private ist politisch“ der wiederentdeckte Leitsatz der Diskursthemen von Heute. Längst schreibt man im Feuilleton über die Online-Erotik-Plattform OnlyFans. Sex und Partnerschaft ist kein verbotenes Feld mehr. Pornoproduzentin Paulita Pappel veröffentlichte im Herbst das vielgelobte Buch „Pornopositiv“. Wie offen wird wirklich über Sex geredet? Wie schambehaftet sind die Nicht-mehr-nur-Schlafzimmer-Themen tatsächlich noch?

Es ist keine Gesellschaftsanalyse, die Christine Koschmieder mit „Schambereich“ liefert. Der individuelle Zugang ist dafür zu ausgeprägt und so streift sie viele Themenbereiche nur. An vielen Stellen fehlt es an Tiefenschärfe. Stattdessen hat sie Ratschläge für ihre Leserschaft parat, wie:

„Du musst nicht alles ausprobieren. Aber du kannst versuchen, Worte für das zu finden, was du gerne ausprobieren möchtest“

oder

„Wie du als Kind gewaschen worden bist, wie deine Geschlechtsteile benannt worden sind, wie mit deinen Bedürfnissen und deiner Neugier und deinen Grenzen umgegangen wurde, hat unendlich viel damit zu tun, wie du heute Sexualität erlebst.“

Überwindet Christine Koschmieder die Scham?

Das mutet zuweilen an, als würde Seelenstriptease auf Selbsthilfebuch treffen. Einer gewissen Spannung entbehrt „Schambereich“ allerdings auch nicht, schließlich bleiben die Fragen: Schafft es Christine Koschmieder, aus ihren Mustern auszubrechen? Kann sie ihre Blockaden lösen? Oder scheitert sie?

So viel sei verraten: Auch das löst Koschmieder leider nicht richtig auf. Die Selbsterfahrung läuft ins Leere. Schade.

Aber vielleicht ist das auch die Lehre, die man aus der Lektüre von „Schambereich“ ziehen kann: Dass Selbstermächtigung an vielen Stellen erstmal ein Experiment ist. Und dass trotzdem noch viel zu tun bleibt, selbst wenn man die Scham überwunden hat, über Sex zu reden.

Gespräch Paulita Pappel – Pornopositiv. Was Pornografie mit Feminismus, Selbstbestimmung und gutem Sex zu tun hat

Die Deutschen sind Weltmeister im Porno-Gucken, aber drüber sprechen wollen sie nicht. Porno-Regisseurin Paulita Pappel wünscht sich einen entspannteren Umgang mit dem Thema. In ihrem Buch „Pornopositiv“ beschwört sie die befreiende Kraft des Pornos und erklärt, warum Hollywood-Liebesfilme viel schlimmer sind.

Lukas Meyer-Blankenburg im Gespräch mit Paulita Pappel.

Ullstein Verlag, 208 Seiten, 16,99 Euro
ISBN 9783864932366

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