Im Januar 2024 klagte Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof Israel an. Der Vorwurf: Genozid an den Palästinensern in Gaza. Juristisch ist das nur schwer zu beweisen.
Unter dem Eindruck des Holocaust ins internationale Völkerrecht aufgenommen, waren die Urteile zu den Genoziden in Ruanda und in Srebrenica in den 1990er-Jahren die ersten. Aktuell laufen Verfahren zu den Rohingya in Myanmar sowie zum russischen Krieg in der Ukraine.
Fachleute betonen, neben der juristischen sei die politische und psychologische Aufarbeitung ebenso wichtig. Genozidale Erfahrungen beeinflussen Betroffene über Generationen hinweg.
Vorwurf Völkermord: Nahostkonflikt vor dem Internationalen Gerichtshof
11. Januar 2024: 96 Tage nach dem brutalen Angriff der Hamas auf Israel, 75 Tage nach dem Beginn der israelischen Bodenoffensive im Gaza Streifen mit zehntausenden Toten, blickt die Welt gespannt nach Den Haag. Hier am Internationalen Gerichtshof, kurz IGH, kommt der Nahostkonflikt das erste Mal vor ein Weltgericht. Der Ankläger heißt Südafrika. Auf der Anklagebank: der Staat Israel.
Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord?
Den Straftatbestand des Völkermords juristisch nachzuweisen sei nicht leicht, sagt der israelische Historiker und Holocaustforscher Omer Bartov. Eine Schwierigkeit sei, Kriegsverbrechen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und diese wiederum von einem Völkermord zu unterscheiden.
In seiner 84-seitigen Anklageschrift schreibt Südafrika: Israel begehe Völkermord an den Palästinensern in Gaza, indem die Armee dort Menschen töte, ihnen schwere seelische und körperliche Schäden zufüge und Lebensbedingungen schaffen würde, die darauf ausgelegt seien, ihre physische Zerstörung herbeizuführen.
Um die Absicht dahinter zu erklären, werden Äußerungen israelischer Minister angeführt, wie von Verteidigungsminister Joav Gallant. Der hatte nach dem 7. Oktober in Bezug auf Palästinenser von – Zitat – "menschlichen Tieren" gesprochen und erklärt:
Israelische Politiker wiesen die Vorwürfe als haltlos zurück, unterstellten dem Internationalen Gerichtshof Antisemitismus. In Wahrheit seien die Israelis am 7. Oktober 2023 selbst zum Opfer eines noch andauernden versuchten Völkermords durch die Hamas geworden.
Forum Terror gegen Israel – Droht ein Flächenbrand im Nahen Osten?
Martin Durm diskutiert mit
Dr. Jochen Hippler, Nahost-Experte
Dr. Bente Scheller, Böll-Stiftung Berlin
Prof. Dr. Michael Wolffsohn, Historiker und Publizist
Wie Absicht nachweisen, wenn der Beschuldigte diese bestreitet?
Die Richter stehen vor einer Mammutaufgabe: Die Gewalt gegen palästinensische Zivilisten ist gut dokumentiert. Aber die Absicht zur Auslöschung einer Gruppe festzustellen, wenn der Beschuldigte diese bestreitet, scheint ein Ding der Unmöglichkeit.
Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre sagte einst mit Blick auf den Krieg der USA in Vietnam: Nicht alle Regierungen seien so dumm wie Hitler und kündigten ihren Plan an, einen Völkermord zu begehen.
Kritiker der aktuellen Rechtsprechung fordern schon lange, weniger die Absicht und mehr das tatsächliche Geschehen und Handlungen zu ahnden. Befürworter wiederum betonen, es sei genau die Absicht zum Völkermord, die diesen von anderen schweren Verbrechen unterscheide.
Talat Pascha und der Völkermord an den Armeniern
Talat Pascha war Innenminister im Osmanischen Reich und mitverantwortlich für eines der schrecklichsten Verbrechen im frühen 20. Jahrhundert: den Genozid an mehr als 1,5 Millionen indigenen Christen. Die berühmteste Opfergruppe: die Armenier. Nach der Niederlage der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches floh Talat Pascha nach Deutschland.
Am 15. März 1921 schlendert Talat Pascha durch Berlin. Er bemerkt nicht, dass ihm ein junger Mann folgt, der ihn schließlich anspricht. Talat dreht sich um und Soghomon Tehlirian erschießt ihn. Der Attentätet ist 23 Jahre alt. Durch den Genozid hatte er 85 Verwandte verloren, darunter seine Mutter. Der Mord an Talat Pascha ist sein Racheakt.
Freispruch für den Attentäter Soghomon Tehlirian
Das Gerichtsurteil gegen Tehlirian am 3. Juni 1921 ist ein historisches Ereignis, Dutzende Journalisten aus aller Welt sind zugegen. Zwar gibt es damals den Straftatbestand Völkermord noch nicht – der gruppenbezogene Massenmord im Osmanischen Reich spielt für das Urteil der Schöffen aber eine zentrale Rolle. Soghomon Tehlirian wird freigesprochen. Die Schöffen urteilen, dass er aufgrund seiner Traumata nicht zurechnungsfähig war. Tehlirian wird von den deutschen Behörden des Landes verwiesen, damit die Witwe des Ermordeten keinen Einspruch gegen das Urteil erheben kann.
Raphael Lemkin prägt den Begriff "Genozid"
Aus der Ferne, in Lwiw, hatte ein jüdischer Jura-Student namens Raphael Lemkin den Prozess verfolgt.
Als die Deutschen 1939 Polen überfallen, flieht Lemkin über Schweden in die USA. Von hier verfolgt er die Verbrechen der Nazis. Die Massendeportationen, die wirtschaftliche Ausbeutung, die Sterilisation von Frauen. 1944 schreibt er sein Buch "Axis Rule in Occupied Europe", zu Deutsch: "Die Herrschaft der Achsenmächte im besetzten Europa". Er verwendet darin zum ersten Mal den Begriff Genozid. Das Wort setzt sich zusammen aus dem griechischen Wort "genos" (Volk) und dem lateinischen "caedere" (vernichten).
Vereinte Nationen verabschieden 1948 Völkermordkonvention
Das Buch macht Lemkin mit einem Schlag international berühmt. Und als Nazi-Deutschland 1945 besiegt ist und die Verbrecher sich in Nürnberg vor den Siegermächten vor Gericht verantworten müssen, sieht Lemkin seine Chance: Die Nazis sollen wegen Völkermords angeklagt werden. Die Richter in Nürnberg jedoch beharren auf einer Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Von den 24 Angeklagten werden 12 zum Tode verurteilt – keiner wegen Völkermords.
Drei Jahre später greift die Generalversammlung der Vereinten Nation Lemkins Vorschlag doch noch auf: Am 9. Dezember 1948 wird die Völkermordkonvention verabschiedet.
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