SWR2 Wissen

Psychiatrie hinter Gittern – Wirken Therapien für Straftäter?

Stand
Autor/in
Julia Beißwenger
Onlinefassung
Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Lieber nicht zu früh entlassen. Weil Anstaltsleitungen einen Rückfall fürchten, sitzen psychisch kranke Straftäter oft länger im Maßregelvollzug als es eine Haftstrafe vorgesehen hätte.

Forensische Psychiatrie: Alternative zum Gefängnis

Die forensische Psychiatrie, auch Maßregelvollzug genannt, ist eine Alternative zum Gefängnis. Hier leben Männer und Frauen, die eine Straftat begangen haben und als psychisch krank gelten.

Deutschlandweit sind es derzeit etwa 8.000 Menschen. Die meisten leiden an Schizophrenie, bei etwa einem Drittel liegt eine sogenannte Persönlichkeitsstörung vor, jeder zehnte gilt als Mensch mit starker Intelligenzminderung, also als geistig behindert.

Manche haben nur ein relativ kleines Delikt begangen, zum Beispiel gestohlen oder unerlaubt Waffen besessen. Andere dagegen haben Mitmenschen angegriffen. Etwa ein Viertel der Patienten ist wegen sexueller Übergriffe verurteilt worden, einige wegen Mord.

Wann jemand aus dem Maßregelvollzug entlassen wird, hängt aber nicht von der Schwere der Straftat ab. Entscheidend sei, ob die Therapie erfolgreich ist.

Länger in der forensischen Klinik als im Gefängnis

Die meisten Männer und Frauen bleiben sehr viel länger in der forensischen Klinik, als es eine Haftstrafe vorgesehen hätte. Die Verweildauer hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen, jeder dritte Patient sitzt inzwischen länger als zehn Jahre im Maßregelvollzug, im Schnitt sind es über acht Jahre.

Das sei viel zu lang, kritisiert Hans-Ludwig Kröber. Der mittlerweile emeritierte Professor ist einer der bekanntesten psychiatrischen Gutachter Deutschlands. Die Anstaltsleitungen seien viel zu vorsichtig, wenn es um die Entlassung gehe. Und die mediale Öffentlichkeit ist bei psychisch kranken Straftätern besonders kritisch, gerade wenn es sich um Gewalttäter handelt.

Psychisch Kranke ohne Recht auf Freiheit nach Verbüßen der Strafe

Eine im März 2018 publizierte Studie des Instituts für Forensische Psychiatrie in Essen zeigt, dass 13 Prozent der ehemaligen Patienten innerhalb von 16 Jahren erneut eine schwere Straftat begehen. Weitere gut 20 Prozent fallen durch kleinere Delikte auf.

Gesunde Straftäter haben nach Verbüßung der Strafe das Recht auf Freiheit. Allerdings wird fast jeder zweite, der im Gefängnis saß, auf freiem Fuß wieder straffällig. Im Schnitt sind ehemalige Häftlinge also gefährlicher als Patienten der Forensik. Trotzdem haben gesunde Straftäter nach Verbüßung ihrer Strafe ein Recht auf Freiheit. Wer als psychisch krank gilt, hat dieses Recht nicht.

In der Regel überprüft ein Richter einmal im Jahr, ob der Aufenthalt noch nötig ist. Er stützt sich dabei auf Empfehlungen externer Gutachter und der Therapeuten der Klinik. 2016 hat der Bundestag beschlossen, dass Richter spätestens nach sechs Jahren die Verhältnismäßigkeit der Aufenthaltsdauer berücksichtigen müssen.

Therapien der forensischen Psychiatrie

Schon der Alltag in der forensischen Psychiatrie gilt als Therapie, genauer als Milieutherapie. Die Bewohner können auf dem Gelände zur Arbeit gehen, Körbe flechten, Schrauben drehen oder schreinern; das ist die Arbeitstherapie.

Fußball gehört zur Sporttherapie, Gespräche mit Therapeuten in Einzel- und Gruppensitzungen finden jeweils einmal in der Woche statt. Musiktherapie soll die Menschen aktivieren, sie aus der Lethargie und Depression herausholen, denn viele liegen auch tagsüber lange Zeit nur in ihrem Bett.

Begleitung nach der Entlassung in „forensischen Nachsorgeambulanzen“

Im Jahr 2007 wurde gesetzlich geregelt, dass Patienten des Maßregelvollzugs nach der Entlassung begleitet werden können – in „forensischen Nachsorgeambulanzen“.  

Doch immer wieder entscheiden Richter, dass Menschen im Maßregelvollzug bleiben müssen, weil draußen kein betreuter Wohnplatz frei ist. Bei Politikern haben psychisch kranke Straftäter keine Lobby, ähnliches gilt wohl für die gesamte Gesellschaft. Nur so ist zu erklären, dass keiner weiß, was überhaupt in den forensischen Kliniken passiert.

Jede Einrichtung arbeitet nach eigenen Regeln

Das musste die Bundesregierung Ende 2018 zugeben, nachdem eine Anfrage im Bundestag gestellt wurde. Noch arbeitet jede forensische Einrichtung im eigenen Ermessen. Einheitliche Standards gibt es nicht. Entscheidungen über Lockerungen, was Patienten dürfen oder nicht, welche Therapien sie bekommen und wie lange: Alles hängt vom Personal und seiner Leitung ab.

Entsprechend variieren die Verweildauern erheblich. Mehr Transparenz könnte helfen, um gemeinsame Standards zu entwickeln. Das würde Patienten und Therapeuten Orientierung geben, Willkür und überlange Verweildauern reduzieren.

SWR 2019 / 2021

Heidelberg

Gesellschaft Malerei aus der Psychiatrie – Wie die „Sammlung Prinzhorn“ die Kunst beeinflusst hat

Einst von den Nazis geächtet, ist die Sammlung Prinzhorn heute weltbekannt. Seit 100 Jahren zeigt sie Kunstwerke von psychisch kranken Menschen und ändert unseren Blick auf sie.

SWR2 Wissen SWR2

Mehr zum Thema

Gesellschaft Die Geschichte der Sozialpsychiatrie – Integrieren statt wegsperren

Psychisch kranke Menschen wurden bis zur Psychiatrie-Enquete 1975 in „Verwahranstalten“ mit Medikamenten ruhiggestellt. Die Sozialpsychiatrie ermöglicht eine andere Behandlung.

SWR2 Wissen SWR2

Gesundheit Schizophrenie – Besser verstehen und behandeln

Schizophrenie ist die klassische Wahnerkrankung, knapp ein Prozent der Menschen erkranken an ihr. Mit der entsprechenden Therapie lassen sich die Symptome heute gut behandeln.

SWR2 Wissen SWR2

Strafvollzug Psychisch krank im Gefängnis – Wie Therapien Suizide und Rückfälle verhindern könnten

40 bis 70 Prozent der Häftlinge im Strafvollzug in Deutschland sind psychisch erkrankt – genaue Zahlen fehlen. Experten des Europarats kritisieren die schlechte psychiatrische Versorgung in deutschen Gefängnissen. Dabei könnte eine gute Versorgung auch das Rückfallrisiko senken.

Das Wissen SWR Kultur

Psychologie Psychisch gestörte Attentäter – Seelische Krankheiten und Gewalt

Nach Attentaten heißt es oft, der Täter sei psychisch krank. Tatsächlich leiden viele unter einer wahnhaften Schizophrenie. Sind psychisch kranke Menschen besonders gefährlich?

Das Wissen SWR Kultur

Resozialisierung Sport im Gefängnis – Chance für jugendliche Straftäter

Fast 4.000 junge Menschen werden in Deutschland auf die Freiheit vorbereitet. Auch im Sport lernen die Jugendlichen viel: vor allem, wenn sie am regulären Ligabetrieb teilnehmen.

SWR2 Wissen SWR2

Hamburg

Leben Gefängnis ist nicht cool – Ein Mörder erzählt Schülern über die Folgen von Gewalt

Henry-Oliver Jakobs saß 19 Jahre im Gefängnis. Heute gibt er Gewaltpräventionsunterricht in Schulen und konfrontiert die Schüler im Rollenspiel mit Gewaltsituationen. (SWR 2019)

SWR2 Leben SWR2

Justiz Der Hohenasperg – Geschichten aus einem deutschen Gefängnis

Der Hohenasperg ist Symbol der südwestdeutschen Freiheitsbewegung, Ort politischer Willkür und Ausdruck moderner Demokratie – ob als Fürstensitz, mittelalterliche Burg oder Staatsgefängnis mit prominenten Insassen.

SWR2 Wissen SWR2

Porträt Michel Foucault – Umstrittener Philosoph der Macht

Wissen und Macht gehören zusammen. Je mehr Wissen man über den Menschen anhäuft, desto regierbarer wird er. Viele Gedanken von Michel Foucault (1926-1984) sind heute wieder aktuell.

SWR2 Wissen SWR2

Psychologie: aktuelle Beiträge

Kommunikation Gut zuhören, besser verstehen – Wie Kommunikation gelingt

Nicht dazwischenreden. Nicht gleich von eigenen Gedanken und Erlebnissen berichten. Nicht „das Sagen" haben wollen. Das sind gute Regeln fürs aufmerksame Zuhören, muss aber geübt werden. Von Marisa Gierlinger (SWR 2024) | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/zuhoeren | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: daswissen@swr.de | Folgt uns auf Mastodon: https://ard.social/@DasWissen

Das Wissen SWR Kultur

Stand
Autor/in
Julia Beißwenger
Onlinefassung
Ulrike Barwanietz
Candy Sauer