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Was bedeutet "Staatsräson"?

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Gábor Paál
Gábor Paál

Den Begriff "Staatsräson" hört man in den letzten Jahren vor allem in Bezug auf Deutschlands Haltung gegenüber Israel. Doch der Begriff hat eine jahrhundertealte Vergangenheit.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte 2008 in der israelischen Knesset: Die Sicherheit sei "Teil der deutschen Staatsräson".

Merkels Nachfolger, Bundeskanzler Olaf Scholz, hat das nach den Angriffen der Hamas auf Israel im Oktober 2023 wiederholt. Diese Sätze gingen so durch die Medien, dass viele das Wort "Staatsräson" fast nur im Zusammenhang mit Israel kennen. Dabei führt das auf eine falsche Fährte.

Keine moralische Überzeugung, sondern von nationalen Interessen motiviert

Deutschland leitet seine Solidarität gegenüber Israel auch aus der deutschen Vergangenheit ab, dem Holocaust. Und so entsteht der Eindruck, dass Staatsräson so etwas bedeutet wie eine selbstauferlegte moralische Verpflichtung. Dabei bedeutet das Wort eigentlich genau das Gegenteil. Nämlich gerade keine moralische Überzeugung, sondern eine rein vom nationalen Interesse geleitete.

Begriff "Staatsräson" geht zurück auf Machiavelli und Botero

Der Begriff ist schon 500 Jahre alt und geht auf die Herrschaftstheorien von Niccolò Machiavelli (1469 - 1527) und Giovanni Botero (1544 - 1617) zurück. Staatsräson war bei Botero das, was dazu dient, die staatliche Herrschaft aufrechtzuerhalten.

Eine besondere Bedeutung erhielt das Konzept nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618 - 1648), im Westfälischen Frieden (1648). Dort haben die vom Krieg gebeutelten Staaten vereinbart, dass sie gegenseitig in Ruhe lassen – trotz ihrer vor allem religiösen Unterschiede. Katholiken hier, Protestanten dort – kein Staat sollte mehr versuchen, seine religiösen, politischen oder sonstigen Vorstellungen einem anderen Volk mit Gewalt aufzuzwingen. Vielmehr haben die bestehenden Staaten in ihren jeweiligen Grenzen eine Existenzberechtigung. Und die Staaten waren sich einig, dass es im Sinne eines Kräftegleichgewichts sogar gut ist, wenn es mehrere Machtzentren in Europa gibt.

Das bedeutete im Klartext auch eine Machtverschiebung innerhalb der Staaten: Nicht mehr die Kirchen sollten das staatliche Handeln bestimmen, sondern  das, was für den Erhalt der Staaten gut und nützlich war, eben: Die Staatsräson, als nationales Interesse.

Staatsräson kann in Konflikten stehen mit anderen Werten

Das war die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs, der deshalb auch nicht immer nur positiv gemeint war. Denn die Staatsräson kann ja hier und da im Konflikt stehen mit anderen Werten – etwa dem Rechtsstaat oder der Freiheit der Bürger. Hier ein Ausschnitt einer Bundestagsdebatte von 1956. Der SPD-Abgeordnete Carlo Schmid – einer der Väter des Grundgesetzes – spricht über das in der Verfassung verankerte Recht auf Kriegsdienstverweigerung.

Wir wollten, dass in diesem Staat die Staatsräson nicht als die oberste Autorität für das Handeln von Staat und Bürger anerkannt wird.

Mit anderen Worten. Das Recht, den Dienst an der Waffe zu verweigern, stehe über der Staatsräson, die eher eine starke Bundeswehr verlangt. Aus Staatsräson ist die Bundesrepublik nach dem Krieg der NATO beigetreten und hat sich für das Zusammenwachsen Europas eingesetzt – dass das im nationalen Interesse ist, darin waren sich alle Bundesregierungen seit dem Krieg einig. Und so bekräftige das auch der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl 1985:

Eine der wichtigen Lehren, die wir aus unserer Geschichte in diesem Jahrhundert ziehen konnten, ist zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland geworden: Die Bindung an die Wertegemeinschaft freiheitlicher Demokratien und die Verpflichtung auf die politische Einigung Europas.

Staatsräson kann auf Werten beruhen – muss es aber nicht

Kohls Satz macht deutlich: Eine Staatsräson kann auf Werten beruhen. Aber Staatsräson und Werte sind trotzdem zunächst verschiedene Dinge. Mit Diktatoren Geschäfte zu machen oder mit Autokraten militärische Bündnisse zu schmieden, lässt sich schwerlich mit freiheitlich-demokratischen Werten begründen. Und doch kann es Staatsräson sein, es zu tun – weil es im nationalen Interesse ist, Handelspartnerschaften zu pflegen oder sich um der eigenen Sicherheit zuliebe mit Ländern zu verbünden, die nicht das gleiche Wertesystem teilen.

Kurz: Wenn ein Staat vor einer schwierigen Entscheidung steht – etwa: Verhandle ich mit Geiselnehmern? Veröffentliche ich brisante Informationen? – und am Schluss die oberste Priorität für die Entscheidung ist, dass der Staat und seine Institutionen aufrechterhalten bleiben, dann ist das "Staatsräson". Es ist also gerade kein Synonym für "Werteorientierung".

Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach bei einer Sondersitzung des israelischen Parlaments, der Knesset, am 18. März 2008 in Jerusalem. Unter anderem sagte sie: "Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar."
Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach bei einer Sondersitzung des israelischen Parlaments, der Knesset, am 18. März 2008 in Jerusalem. Unter anderem sagte sie: "Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar."

Deutschland: Besondere Auslegung des Begriffs in Bezug auf Israel

Dass Merkel und ihr Nachfolger Scholz den Begriff im Zusammenhang mit Israel gebrauchen, ist aus Sicht von Marietta Auer daher bemerkenswert. Sie ist Rechtswissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Rechtstheorie in Frankfurt und sagte im Bayerischen Rundfunk:

"Eigentlich sagt Staatsräson ja: Das Überleben des eigenen Staates steht über allem. Und das Interessante an dieser Konstruktion ist, dass das Überleben eines anderen Staats zur eigenen Staatsräson gemacht wird."

So habe bisher kein anderer Staat den Begriff Staatsräson ausgelegt. 

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Mai 1947 David Ben-Gurion fordert vor den UN jüdischen Staat

Mai 1947 | Die Situation in Palästina hatte Großbritannien 1947 längst nicht mehr im Griff. Die gewaltsamen Spannungen zwischen der arabischen und jüdischen Bevölkerung schienen unlösbar. Beide Seiten wollten Unabhängigkeit, beide aber zu ihren eigenen Bedingungen.
Im April 1947 beantragte Großbritannien schließlich, dass sich die UN (Vereinte Nationen) damit befassen mögen. Die UN-Vollversammlung kam Ende April 1947 zusammen, um zwei Wochen lang über eine Lösung für die Palästinafrage zu beraten. Gegen Ende kam auch David Ben-Gurion (1886 - 1973) dazu, der Kopf der Jewish Agency und damit de facto Sprecher der Juden in Palästina.
Ben-Gurion hatte eine durchaus militante Vergangenheit, sah aber schließlich Chancen für eine friedliche Koexistenz eines jüdischen Staats zwischen freien arabischen Nachbarn, mit denen er kooperieren würde. Dafür warb Ben-Gurion auch vor den UN. Ziel sei eine jüdisch-arabische Allianz, in der alle alle – wie er sie zusammenfasste – semitischen Staaten, also der jüdische und die arabischen Staaten, davon wirtschaftlich und sozial profitieren und wirklich unabhängig würden.
Am letzten Tag der zweiwöchigen Sitzung, am 15. Mai 1947, beschloss die UN-Vollversammlung schließlich die Einrichtung eines Sonderausschusses zur Lösung der Palästinafrage. Dieser Ausschuss entwarf im weiteren Verlauf den Teilungsplan, den die Vereinten Nationen im November 1947 annahmen.
Am 14. Mai 1948 endete Großbritanniens Mandat über Palästina. Noch am selben Tag erklärte David Ben-Gurion die israelische Unabhängigkeit.

29.11.1947 UN-Vollversammlung stimmt für Aufteilung Palästinas

29.11.1947 | Bis zum Ersten Weltkrieg gehörte Palästina zum Osmanischen Reich. Das Osmanische Reich gehörte aber zu den Kriegsverlierern und hat sich in der Folge aufgelöst. Palästina wurde Mandatsgebiet von Großbritannien. In dieser Zeit und schon vorher wanderten viele Juden nach Palästina aus. Großbritannien hatte den Juden schließlich schon 1917 versprochen, in Palästina eine Heimstätte für das jüdische Volk zu schaffen. Das war die berühmte Balfour-Erklärung.
Die Einwanderung führte allerdings zu schweren Konflikten mit den ebenfalls dort lebenden Arabern. Großbritannien war mit den wachsenden Spannungen überfordert und stand auch unter Druck, Palästina in die Unabhängigkeit zu entlassen. Aber die Bevölkerung Palästinas bestand zu diesem Zeitpunkt aus Juden und Arabern und beide hatten sehr unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft des Landes.
Also übergab Großbritannien das Problem an die Vereinten Nationen. Die verabschiedeten einen Teilungsplan. Palästina wurde auf dem Papier in einen jüdischen und einen palästinensischen Staat geteilt. In diesem Teilungsplan zerfiel übrigens auch der jüdische Staat in einen nördlichen und einen südlichen Teil, Jerusalem gehörte in diesem Plan nicht zum jüdischen Staatsgebiet, sondern sollte unter internationale Kontrolle gestellt werden.
Über diesen Teilungsplan stimmte die UN-Vollversammlung am 29. November 1947 ab.
Mit 33 Ja- zu 13 Nein-Stimmen bei 10 Enthaltungen stimmte die Mehrheit für die Aufteilung des Landes. Großbritannien hat sich als ehemalige Mandatsmacht enthalten. Ein halbes Jahr später erklärt Israel seine Unabhängigkeit.

Bedingungslose Solidarität mit Israel? Die wachsende Kritik an der deutschen Staatsräson

Was in Gaza geschieht, reibt auch viele in Deutschland auf. Manuel Gogos hat den Diskurs nach dem 7. Oktober verfolgt und mit Menschen gesprochen, die selbst von den Ereignissen betroffen sind.
Von Manuel Gogos

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