In Deutschland gibt es Fehlurteile. Die Hürden für die Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Strafverfahrens sind jedoch sehr hoch gesetzt. Die Richter wollten Recht behalten, sagen Kritiker.
Fehlurteile: peinlich für die Justiz, tragisch für die Betroffenen
Ein Mensch, der kein Verbrechen begangen hat und trotzdem zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird, muss seine Familie zurücklassen, verliert seine Arbeitsstelle, vielleicht seine Wohnung, die er nun nicht mehr abbezahlen kann, sitzt tagein tagaus im Gefängnis. Verliert wertvolle Lebenszeit, Monate, Jahre. Für die Justiz sind diese Irrtümer mehr als peinlich.
Doch auch Richterinnen und Richter können irren, weiß Sabine Rückert. Sie hat jahrelang als Gerichtsreporterin für die Wochenzeitung "Die Zeit" gearbeitet. Mittlerweile ist sie stellvertretende Chefredakteurin und betreibt mit "Zeit Verbrechen" den erfolgreichsten True-Crime-Podcast Deutschlands. Mit einer ihrer Recherchen hat Sabine Rückert zwei zu Unrecht verurteilten Männern zu einem Wiederaufnahme-Verfahren verholfen und schließlich einem Freispruch.
Schwierigkeiten eines Wiederaufnahmeverfahrens
Doch Wiederaufnahmeverfahren können an vielen Aspekten scheitern: an fehlenden finanziellen Mitteln der Verurteilten. An den Möglichkeiten, neue Beweise zu recherchieren. Und auch an der grundsätzlichen Einstellung der Justiz: Sie korrigiert sich nicht gerne, möchte keine Ressourcen für bereits abgeschlossene, oftmals langwierige Prozesse aufwenden.
Außerdem müsste der Staat an zu Unrecht Verurteilte eine Entschädigung zahlen. Zusätzlich zum Ersatz des Verdienstausfalls liegt diese bei pauschal 75 Euro pro Tag. Von diesen 75 Euro zieht die Justiz aber noch Geld ab – unschuldig Verurteilte müssen nämlich unter Umständen für Kost und Logis im Gefängnis bezahlen.
Schriftliche Anklage schildert das Tatgeschehen aus Sicht der Staatsanwaltschaft
Für den Berliner Rechtsprofessor Carsten Momsen beginnen die Probleme oft schon vor der Hauptverhandlung. Nämlich mit den Informationen, die das Gericht über den zu verhandelnden Fall erhält. Es ist die Staatsanwaltschaft, die diese Informationen recherchiert und zusammenstellt. In dieser schriftlichen Anklage erzählt die Staatsanwaltschaft vor allem ihre Version der Geschichte.
Bereits bevor die Hauptverhandlung beginnt, kennen die Richterinnen und Richter also eine Version des Tatgeschehens, das sie für hinreichend wahrscheinlich halten. Nämlich die der Staatsanwälte und nicht die der vermeintlichen Täter.
Revision bezieht sich nur auf das Urteil und die Anwendung des Rechts
Am Ende spricht das Gericht ein Urteil. Wenn dieses Urteil in den Augen des Angeklagten oder der Staatsanwaltschaft falsch ist, bleibt zunächst nur ein Rechtsmittel:
Die Revision bezieht sich allein auf das Urteil. Doch darin können Richter entscheidende Dinge nicht erwähnen oder das Urteil enthält Fehler. Sabine Rückert findet deutliche Worte:
Wortgenaue Protokolle werden in Strafverfahren nicht geführt, der Prozess wird auch nicht per Video oder als Audio aufgenommen, erläutert Sabine Rückert.
Die Kosten seines Verfahrens muss der oder die Verurteilte tragen
Meistens sind bei großen Verfahren schnell alle finanziellen Rücklagen aufgebraucht. Wer erst einmal im Gefängnis sitzt, hat kaum Verdienstmöglichkeiten. Geld für einen Anwalt ist nicht da. Und selbst mit einem Anwalt bleiben die Chancen gering, dass ein Wiederaufnahme-Antrag angenommen wird. Und die personell immer knapp ausgestattete Justiz ist froh über jeden Fall, den sie erledigt hat.
"Innocence Project" konnte in den USA zahlreiche Fehlurteile aufdecken
In diesem Video des amerikanischen "Innocence Project", das zwei Strafverteidiger, Peter Neufeld und Barry Scheck, 1992 an einer Law School in New York gegründet haben, erzählen einige Betroffene ihre Geschichte. Gemeinsam mit vielen Studierenden haben die Gründer mehr als 300 Fehlurteile allein mithilfe von DNA-Analysen aufgedeckt. 3.777 Jahre haben die Klienten des amerikanischen Projekts bisher unschuldig im Gefängnis verbracht.
Hilfe für unschuldig Verurteilte: neues Projekt in Deutschland
In Deutschland gibt es seit Kurzem eine ähnliche Initiative wie das amerikanische "Innocence Project". Gemeinsam mit dem Berliner Anwalt Prof. Stefan König hat Carsten Momsen das Projekt "Fehlurteil und Wiederaufnahme" ins Leben gerufen. Verurteilte können sich an das Projekt wenden, das dann prüft, welche Möglichkeiten es geben könnte, Urteile anzugreifen. Momsen und König arbeiten honorarfrei, ehrenamtlich unterstützt von weiteren Juristen und Juristinnen und von mehreren Studierenden.
Denn das ist die Realität in Deutschland: Menschen, die verurteilt werden, haben kaum Chancen auf eine Korrektur. Wie könnte sich das ändern?
Doch ernsthafte politische Bestrebungen dazu gibt es nicht.
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