Vier Jahre nach dem Anschlag

Mein Bruder, das Mordopfer – Çetin Gültekin über sein Buch zu den Morden in Hanau

Stand
INTERVIEW
Doris Maull

Çetin Gültekin hat ein Buch geschrieben über seinen Bruder Gökhan, der bei der rassistischen Mordserie von Hanau im Februar 2020 unter den Opfern war. Im Gespräch mit SWR2 beklagt er, dass die Behörden die Angehörigen der Opfer damals nicht informiert hatten. Gültekin ist skeptisch, ob Deutschland Lehren gezogen hat aus dem Geschehen.

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Fehlende Unterstützung durch Behörden und Politik

„Wir kämpfen seit vier Jahren“, berichtet der 50-Jährige über Versuche der Angehörigen, die Hintergründe der gezielten Anschläge am 19. Februar 2020 aufzuklären. Ein 43-jähriger Rechtsradikaler hatte damals in Bars und einem Kiosk zehn Menschen ermordet und sich dann selbst getötet. Die fehlende Unterstützung durch Behörden und Politik nach der Tat fasst Gültekin in den Satz: „Jedes Mal haben wir einen Schlag ins Gesicht bekommen.“

Offener Rassismus seit dem Mauerfall

Mit seinem Buch „Gökhan Gültekin: Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland“ habe er seinem Bruder ein Denkmal setzen wollen, der in Deutschland „ein krasses Leben“ gehabt habe. Die Familie eines aus dem östlichen Anatolien stammenden Arbeitsmigranten habe Rassismus in Deutschland erstmals nach dem Mauerfall 1989 kennengelernt. Damals hätten sich plötzlich Neonazis gezeigt: „Die waren tatsächlich auf der anderen Seite der Straße.“

Die Polizei gab Informationen nicht weiter

Das Schlimmste nach der Mordnacht von Hanau sei für ihn und die Angehörigen die Nicht-Information durch die Polizei gewesen, stellt Çetin Gültekin im Gespräch fest. Zum Beispiel konnten die Familien die Ermordeten nicht vor der Obduktion sehen. „Der Gerichtsmediziner habe im Untersuchungsausschuss des Landtags ausgesagt, er habe der Polizei mitgeteilt, die Angehörigen zu informieren, doch das sei nie geschehen. Das tut mir heute noch weh, dass die nicht mal in der Lage sind, die Informationen weiterzugeben“, schildert Gültekin die seelischen Folgen.

Deutschland pflegt Rassismus

Unverständnis äußert Gültekin über die Untätigkeit von Politik und Justiz bei der Bekämpfung rechtsradikaler Tendenzen in Deutschland, wenn diese – wie jetzt durch einen Medienbericht öffentlich wurde – eine „Remigration“ wollten.

„Wenn schon Deutschland so eine Historie hat: Wie kann das sein, dass sich solche Parteien ausbreiten können?“, fragt Çetin Gültekin. Sein Eindruck sei, dass in Deutschland Rassismus gepflegt werde, dabei sei eine Alternative möglich: „Wenn Deutschland will, gibt es keine Probleme.“

Çetin Gültekin, geboren 1974, von Beruf Industriemechaniker, war bis zum rassistischen Terroranschlag vom 19.02.2020 selbstständig und leitete eine Speditionsfirma. In Hanau geboren, aufgewachsen und immer noch dort lebend, wurde er nach dem Attentat zu einem der bekannten Gesichter im Kampf gegen Rassismus und für Aufklärung.

Rechtsterrorismus und der Anschlag von Hanau

Was geht - was bleibt? Zeitgeist. Debatten. Kultur. 3 Jahre nach Hanau - Was bleibt außer Bitterkeit und Misstrauen?

“Wir sind alle Hanau”, hieß es nach dem rechtsextremen Anschlag in Hanau.

Stimmt das? Oder schaut ein großer Teil der Gesellschaft weg - aus fehlender Betroffenheit, aus Ignoranz oder Rassismus? Und wie könnte im Gegenteil dazu eine solidarischere Gesellschaft aussehen?

Am 19. Februar 2020 riss ein Rassist in Hanau neun junge Menschen aus dem Leben. Seitdem sind drei Jahre vergangen, aber “nichts ist aufgearbeitet worden", beklagt der Rapper Aksu, der in seinem Song “Wo wart ihr?” den rechtsextremen Anschlag verarbeitet hat. Die vielen offenen Fragen und auch das offensichtliche Fehlverhalten der Sicherheitsbehörden verstärken sein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Er hätte sich auch in der Musikszene mehr Anteilnahme gewünscht.

Wegsehen zu können sei ein Privileg, meint der Autor Deniz Utlu. Solidarität heißt für ihn, “sich bewusst dafür zu entscheiden, dieses Privileg nicht zu nutzen”.

Aber selbst wenn die Gesellschaft mehr Mitgefühl, mehr Menschlichkeit entwickeln würde - Armin Kurtović, der Vater eines Opfers, gibt zu bedenken: “Egal was wir machen, nichts bringt mir meinen Sohn zurück”.

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Hosts: Kristine Harthauer und Philine Sauvageot
Showrunner: Giordana Marsilio

Wir empfehlen zur Folge:
Der Song “Wo wart ihr?” von Aksu https://www.youtube.com/watch?v=gAjHPu3jJKc
Die Soli-Lesung am 11.2. in Hanau und digital https://www.betterplace.org/de/fundraising-events/43634-soli-lesung-in-hanau-wir-vergessen-nicht
SWR2-Feature zur “Lücke von Hanau” https://www.swr.de/swr2/doku-und-feature/die-luecke-von-hanau-100.html
Das Sammelband “Anders bleiben” https://www.rowohlt.de/buch/anders-bleiben-9783499010804
Das Sammelband “Eure Heimat ist unser Albtraum” https://www.ullstein.de/werke/eure-heimat-ist-unser-albtraum/hardcover/9783961010363
Eine ARD-Doku zu den Folgen von Hanau https://www.ardmediathek.de/video/dokus-und-reportagen/hanau-eine-nacht-und-ihre-folgen/hr-fernsehen/Y3JpZDovL2hyLW9ubGluZS8xMjY5MzE
Keywords: Hanau, Anschlag, Rassismus, Solidarität, Gesellschaft, Jahrestag

Gespräch ZDF-Doku über rechtsextremistische Anschläge – Nur vermeintlich „Einzeltäter“

Filmemacher Tobias Vogel widmet sich in der dreiteiligen ZDF-Doku „Einzeltäter“ den Hinterbliebenen der rechtsextremen Anschläge von München 2016, Halle 2019 und Hanau 2020.

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Gespräch Über den Anschlag von Hanau – Die Politologin Naika Foroutan

Die rassistischen Morde von Hanau sind kein Ereignis, in dem irgendetwas kulminiert, sondern eines, das sich einschreibt in ein Kontinuum, so Politologin Naika Foroutan.

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Extremismus Rechtsterrorismus in Deutschland – Von der Nachkriegszeit bis heute

Drei Jahre nach dem rechtsextremen Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 mit neun Opfern fragen viele, ob Staat und Gesellschaft Nazi-Terror lange verharmlost haben. Ein Blick in die Geschichte Deutschlands zeigt: ja. Von Rainer Volk. (SWR 2021/2023) | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/rechtsterrorismus-deutschland | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: wissen@swr2.de | Folgt uns auf Mastodon: @swr2wissen@social.tchncs.de

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