Buchkritik

Ronya Othmann – Vierundsiebzig

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AUTOR/IN
Wolfgang Schneider

Vor zehn Jahren beging die Terrormiliz des Islamischen Staats einen Völkermord an den Jesiden. Die Schriftstellerin Ronya Othmann dokumentiert in ihrem Roman „Vierundsiebzig“ die Geschehnisse und erzählt die von Verfolgungen und Massakern geprägte Geschichte der christlichen Glaubensgemeinschaft.

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Der Völkermord an den Jesiden beginnt im August 2014 in der irakischen Region Shingal. Weil sie die Zwangsbekehrung zum Islam verweigern, werden sie umgebracht. Für die Gotteskrieger des „Islamischen Staats“ ist die Tötung von Ungläubigen „halal“.

Ganze Dorfgemeinschaften werden ausgelöscht, viele Mädchen und Frauen verschleppt. Es gibt Sklavenmärkte in Rakka und Mossul, auf denen Jesiden – Ronya Othmann bevorzugt die Schreibweise Eziden – verkauft werden.

Vor 2014 kennt man die Eziden in Deutschland nicht. Wenn ich gefragt werde, sage ich: Wir sind Kurden aus Syrien. Nein, wir sind keine Muslime. […] 2014 wissen die Leute, dass es Eziden gibt. In den Schlagzeilen aller Zeitungen ist von uns zu lesen. Berge, Staub und Menschen, die um ihr Leben rennen. Titelbilder. Tagesschau. Wir werden ermordet.

Der 74. verbürgte Massenmord an den Jesiden

„Vierundsiebzig“ ist Reportage, Essay, Reisebeschreibung – ein fünfhundertseitiges Buch über das Dokumentieren des Völkermords und der Versuch, eine Sprache dafür zu finden.

Darüber hinaus will Othmann auch die vielen Verfolgungen der Jesiden im Lauf der Jahrhunderte vergegenwärtigen: Der Titel des Buches bedeutet, dass die Gemeinschaft 2014 den vierundsiebzigsten historisch verbürgerten Massenmord erlebte.

Othmann reist in die kurdisch-jesidischen Gebiete, besucht Gedenkstätten und  Flüchtlingscamps, trifft Verwandte und Freunde, manche knapp dem Morden entkommen. Sie hört den Überlebenden zu, wenn sie von der Terrorherrschaft des IS erzählen.

Am Oberlandesgericht München verfolgt sie den Prozess gegen die deutsche IS-Anhängerin Jennifer W., die mit ihrem Mann, einem arabischen Dschihadisten, in Falludscha eine jesidische Frau versklavte und deren Kind verdursten ließ. In akribischen Protokollen sind hier Details aus dem monströsen Alltag des Islamischen Staats zu erfahren.   

Fast 6000 ezidische Frauen und Mädchen, lese ich, waren in IS-Gefangenschaft. Nahezu jede wurde vergewaltigt. Bis heute wurde nur die Hälfte aus der Gefangenschaft befreit oder konnte fliehen.

Othmann befasst sich auch mit Definitionen des Begriffs „Genozid“, sie studiert Dokumente der Vereinten Nationen und Sachbücher über den Islamischen Staat, scheut auch nicht zurück vor den Blogs und Hinrichtungsvideos der Islamisten.

Ausgiebig referiert sie die Reisebeschreibung des britischen Archäologen Austen Henry Layard, der im 19. Jahrhundert die Jesidengebiete erkundete und bereits von grausamen Verfolgungswellen und der Versklavung zu berichten wusste, welche die als „Teufelsanbeter“ angefeindete Glaubensgemeinschaft zu erdulden hatte – allein 1832 sollen 12.000 Menschen am Ufer des Tigris ermordet worden sein.

Auch wenn „Roman“ auf dem Umschlag steht – „Vierundsiebzig“ ist keiner, es gibt keine Spielfreiheit der Fiktion. Die Instanz des erzählenden Ichs ist dennoch wichtig, denn sie hält den ausufernden Text zusammen und macht das Umkreisen des Unbegreifbaren psychologisch plausibel.

Wenn die Beschreibung des Unbeschreiblichen immer nur eine Annäherung sein kann, dann braucht es eine Figur, die diese Annäherung vollzieht.

Ich schreibe, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was der Kopf weiß, und dem, was er erfassen kann.   

Das größte Problem des Buches ist sein Ehrgeiz. Othmann belässt es nicht bei den Nöten der Jesiden, sie erzählt auch vom Völkermord an den Armeniern, von den Massenmorden Saddam Husseins, von den zum Minenräumen missbrauchten Kindersoldaten im iranisch-irakischen Krieg, von der der Folter in türkischen Gefängnissen und der nicht endenden Misere der staatenlosen Kurden, deren Milizen die Jesiden während der Angriffe des IS teils unterstützt, teils aber auch schmählich im Stich gelassen haben.

So droht das Buch zu einem unübersichtlichen, seine Form nicht recht findenden Materialkonvolut zu werden. Die Rettung ist das letzte Viertel. Othmann beschreibt hier in atmosphärischer Prosa, wie sie gemeinsam mit ihrem alle Religionen für Unsinn erklärenden Vater in die Gebiete der religiösen Fanatiker reist – ohne männliche Begleitung wäre das nicht möglich.

In der nordirakischen Region Shingal nimmt sie die Orte des Völkermords in Augenschein, fährt mit beklommenen Gefühlen durch die Dörfer der vormaligen IS-Anhänger, unversehrt neben den zerstörten Orten der Jesiden.

Oft sind die Ruinen wegen der Sprengfallen noch immer nicht begehbar. Überlebende berichten, wie sich viele arabische Nachbarn an den Morden beteiligten.

IS-Kämpfer aus dem Ausland, das waren Zwanzigjährige aus Tschetschenien, China, Deutschland, Saudi-Arabien oder Libyen. Aber das, was uns angetan wurde, geschah mit Hilfe unserer sunnitischen Nachbarn. Sie haben ihnen gesagt: Das sind Eziden, Kuffar, Ungläubige. […] Faris wiederholt das, was alle ständig wiederholen, als könnten sie es immer noch nicht begreifen: Es waren unsere Nachbarn, die uns verraten haben.

Ungeachtet ihrer multikulturellen Toleranz findet Othmann die islamischen Gebetsrufe an den Orten des Grauens schwer erträglich. Sie überlegt, ob sie ihr Unbehagen wegzensieren soll, schreibt es aber dennoch auf:

Wir stehen an einer Straßenecke, als plötzlich der Gebetsruf ertönt. Ich erschrecke, versuche mir nichts anmerken zu lassen, meinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Sage mir, das ist doch jetzt albern, und werde wütend. Wie können die noch auf unseren Gräbern herumbrüllen.

Auch wenn „Vierundsiebzig“ durch etwas mehr Straffung und Formung gewonnen hätte – es ist gut, dass Ronya Othmann mit einer Gründlichkeit, die sich und ihren Lesern keine mildernden Umstände gönnt, das Massakrieren im Namen des Islam dokumentiert.

Mit sogenannter „Islamophobie“ hat das nichts zu tun. Denn eine Phobie ist ja die krankhafte Furcht vor etwas eigentlich Harmlosem.

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