Es ist der Abschluss eines Mammutprojekts. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in über 400 Originalaufnahmen: Wiederaufbau, deutsche Teilung, Annäherung, Wiedervereinigung, Wirtschaftswunder und neues Selbstbewusstsein in Sport und Kultur. Die Töne aus den Rundfunkarchiven werden kompetent eingeordnet und kommentiert. Wie lässt sich Geschichte vermitteln? Genau so.
Der Anspruch war: Neues finden!
Wohl jeder hat bestimmte Töne im Kopf, wenn er an geschichtliche Großereignisse denkt. Keine Frage, die eben gehörten mussten in der Edition „Jahrhundertstimmen 1945 – 2000“ unbedingt dabei sein, da waren sich die Herausgeber schnell einig. Ein Team aus unterschiedlichen Expertinnen und Experten besetzt: Der Freiburger Geschichtsprofessor Ulrich Herbert, der langjährige Hanser-Verleger Michael Krüger, die Schriftstellerin und ehemalige DDR-Weltklasse-Sprinterin Ines Geipel, die Programmleiterin für Belletristik im Hörverlag Christiane Collorio und der Journalist und ehemalige Programmleiter der Kulturwelle hr2 des Hessischen Rundfunks, Hans Sarkowicz. Ihm oblag die Recherche in den geradezu unerschöpflichen Archiven der ARD. Sein Anspruch: Neues finden.
"Oskar Schindler gibt am 25. Mai 1967 sein erstes Gespräch über, ja, Schindlers Liste, das findet in Frankfurt im Volksbildungsheim statt und wurde aufgezeichnet vom Südwestfunk. Also ganz interessante Verbindungen und das ist das erste Mal, dass er öffentlich darüber redet. Ein Ton, der so gut wie unbekannt war, bisher. Und solche kleinen Töne und wichtigen Töne haben wir immer wieder gefunden und das war eigentlich auch das Schöne bei der Arbeit, dass man über das hinausgehen kann, was man erwartet hat."
In diesem Gespräch wird Oskar Schindler nach seiner Motivation gefragt, die jüdischen Menschen zu retten. Er habe als Kind viele jüdische Freunde gehabt, erzählt er. Später habe er dann die Drangsalierung der Juden durch Vorschriften und deren Verfolgung mit Schrecken beobachtet. Wer da nicht versuche, nur etwas gegen den Strom anzuschwimmen, sei kein Mensch.
"Es war nicht immer leicht, die andere Lösung wär‘ die bequemere. Ich hätte mit Millionen in der Schweiz sitzen können und sagen bedauerlich, meine Juden sind in Auschwitz umgekommen, aber was ist schon das Leben und was ist schon eine Millionen Dollar, wenn man 1300 Menschen hat, die einem vertrauen, die einem fünf Jahre vertraut haben, und ich habe fünf Jahre nicht einen Menschen eines unnatürlichen Todes verloren!"
Eine Reise in die Geschichte des Radios
Das Hörbuch „Jahrhundertstimmen“ bietet eine faszinierende Mischung aus dem Warten auf bekannte Töne und der Spannung, überrascht zu werden. Die Originaltöne bieten eine Reise in die Vergangenheit, die auch eine Reise in die Geschichte des Radios ist, das sich sehr gewandelt hat. Bemerkenswert sind Reportagen, wie sie heute nicht mehr zu hören sind. Schon damals ungewöhnlich waren die des Journalisten Hasso Wolf, der beispielsweise 1947 vom Kölner Schwarzmarkt berichtet.
„Ich bin nicht von der Kriminalpolizei, keine Angst. Es handelt sich um die Erika.“ – „Ist dem Mädchen was passiert?“ – „Nein, es ist ihr nichts passiert, aber ich habe eben von ihr was gekauft. Wissen Sie darüber Bescheid, dass sie so schwarz verkauft?“ – „Ja, warum denn nicht?“ – „Na, ich weiß ja nicht, so als Mutter…“ – „Wir müssen doch leben.“ – „Kriegen Sie kein Geld?“ – „Nö, mein Mann ist in Russland, in Gefangenschaft, vier Kinder habe ich noch, die Erika ist die Älteste. Ich selbst kann nicht weg, ich kann nicht arbeiten, ich muss meine Kinder versorgen. Ich kann sie ja nicht verhungern lassen, die Kinder!“ – „Haben Sie keine Angst um das Mädchen?“ – „Ach Angst. Die kann gut laufen, wenn die Polizei kommt.“
Wer die großen und wichtigen Stimmen hat und es aus einer Materialsammlung von gut 200 Stunden auf das Hörbuch schafft, entschied das Herausgeberteam in langen Gesprächen. Wichtig war ihnen, Entwicklungslinien aufzuzeigen und diese thematisch zu ordnen: so sind Kapitel entstanden, die von Politik, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Sport in beiden deutschen Staaten erzählen. Mit den Tönen aus der DDR zu arbeiten war etwas schwierig. Im Deutschen Rundfunkarchiv in Babelsberg sind alle Hörfunksendungen der DDR archiviert, aber das war der Staatsrundfunk, dessen Aufgabe es war, dem Aufbau des Sozialismus zu dienen, erzählt Hans Sarkowicz.
"Man findet nur offizielle Töne und muss erstmal lange suchen, bis man dann interne Aufnahmen findet, z.B. von der Staatssicherheit oder von der SED aus dem Politbüro, z.B. zum Kahlschlagplenum 1965, wo alles wieder zurückgenommen wurde an kleinen Öffnungen, was man seit 1961 hatte. Also das sind ganz interessante Originaltöne und die liegen natürlich versteckt in den Archiven. Offiziell haben wir natürlich auch ein bisschen was übernommen, das ist ganz klar, aber das meiste aus der DDR, was nicht staatstragend war, das stammt aus Archiven, die interne Archive waren."
Keine Edition, eher ein Feature
Hans Sarkowicz hat alle Aufnahmen recherchiert, sich durch stundenlange Bundestagsdebatten und Preisreden gehört, den Kern herausgefiltert, geschnitten und dem Team zur Verfügung gestellt. In anschließenden Interviews hat Hans Sarkowicz sie als als Experten aus Geschichte, Literatur und Wissenschaft befragt oder sie auch als Zeitzeugen zu Wort kommen lassen. Die einführenden und einordnenden Zwischentexte zeigen, dass die „Jahrhundertstimmen“ weit keine Edition sind, sondern ein Feature. Nach einem Interview von 1998 mit Udo Lindenberg, in dem er sich an seinen Auftritt in der DDR erinnert, geht es so weiter:
Von der Staatssicherheit wurde Udo Lindenbergs „Sonderzug nach Pankow“ als Diffamierung des Generalsekretärs der SED, sowie der Kulturpolitik der SED angesehen, wie es in der umfangreichen Stasi-Akte von Lindenberg heißt. Wie beliebt er unter DDR-Jugendlichen war, hat Ines Geipel selbst erlebt: „Ja, Lindenberg war natürlich gerade für unsere Generation… das war nun wirklich der Held! Den haben wir mit uns rumgeschleppt, den haben wir geliebt, den haben wir in seiner ganzen Unkonventionalität… von dem konnten wir nicht genug bekommen. Das ist auch ein Stück weit so geblieben. Das war wichtig.“
Vorsicht, macht süchtig!
Zeitzeugen und professionelle Einordnung, dazu Zeitgeschichte in akustischen Quellen, von denen 80% übrigens nicht gedruckt erhältlich sind – die Jahrhundertstimmen sind ein großartiger Fundus. Zudem sind die einzelnen Themenbereiche, jeder O-Ton und jedes Interview im ausführlichen Begleitbuch aufgelistet und leicht zu finden. So kann man sich aussuchen, in welchen Teil der gesamtdeutschen Geschichte man eintauchen möchte. Aber Vorsicht, wer einmal angefangen hat, wird nicht wieder aufhören wollen – so fesselnd kann Geschichte sein.
Literatur zur Geschichte Deutschlands
Buchkritik Ursula Weidenfeld – Das doppelte Deutschland. Eine Parallelgeschichte, 1949 - 1990
Ursula Weidenfeld liefert die Geschichte eines doppelten Deutschlands, die so noch nicht geschrieben wurde.
Buchkritik Michael Wildt - Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 bis 1945
Keine "große Erzählung", sondern eine Reihe von schlaglichtartigen Fragmenten: So erzählt der Berliner Historiker Michael Wildt die Ereignisse zwischen dem Kriegsende im Herbst 1918 und dem Ende des NS-Regimes im Frühsommer 1945. Unterschiedliche Zeiterfahrungen und -wahrnehmungen lassen die Geschichte der ersten Jahrhunderthälfte als Zerklüftetes und Zerborstenes erkennen, das in unsere Gegenwart hineinragt.
Rezension von Clemens Klühnemann.
C. H. Beck Verlag, 638 Seiten, 32 Euro
ISBN 978-3-406-77660-1
Buchkritik Michael Grüttner – Talar und Hakenkreuz. Die Universitäten im Dritten Reich
Der Berliner Historiker Michael Grüttner legt mit dem Sachbuch „Talar und Hakenkreuz“ eine wissenschaftlich fundierte und sorgfältig analysierte Geschichte der Universitäten im Dritten Reich vor, die Wissen-schaftlern und interessierten Laien den großen Überblick bietet, der bisher fehlte.
C. H. Beck Verlag, 704 Seiten, 44 Euro
ISBN 978-3-406-81342-9