In Percival Everetts neuem Roman „James“ wird Mark Twains „Huckleberry Finn“ ganz neu erzählt. Und zwar aus der Perspektive des Sklaven Jim. Everett aber überschreibt diesen Klassiker der Weltliteratur damit nicht, sondern eröffnet ihm eine neue Dimension.
„Die Abenteuer von Huckleberry Finn“, erstmals erschienen 1864, stehen am Anfang der modernen amerikanischen Literatur – das behauptete Ernest Hemingway, und er war mit dieser Ansicht nicht allein.
Mark Twain hat mit seinem jugendlichen Erzähler Huck Finn eine faszinierende Außenseiterfigur geschaffen; er hat die Odyssee als Road Novel in die damalige Gegenwart geholt.
Und nicht zuletzt hat er einen zutiefst menschlichen Roman geschrieben – einen „prekären Gegenentwurf zu Unterdrückung und Gefangenschaft“, wie es der Übersetzer Andreas Nohl auf den Punkt brachte, eine Kritik „am systemischen Rassismus der USA“. Auf seiner Flucht wird Huck von Jim begleitet, einem schwarzen Sklaven.
Ein zweites Leben für den versklavten Jim
Mit ihm erlebt er seine Abenteuer, ihm kommt er im Laufe der Zeit immer näher, mit ihm gelingt Twain eine der „anrührendsten Figuren der Weltliteratur“. Nun schenkt der afroamerikanische Autor Percival Everett diesem Jim ein zweites Leben.
Sein neuer Roman „James“ greift Mark Twains Geschichte und Figuren auf, aber erzählt wird nun aus der Perspektive Jims. Um es vorweg zu nehmen: Es ist ein meisterhaft komponierter, exzellent geschriebener, die Twainsche Utopie weiterdenkender Roman – den Nikolaus Stingl nuancen- und einfallsreich ins Deutsche gebracht hat.
Gib dem Weißen, was er sich wünscht
Den Weißen zu geben, was sie wollen: Das heißt auch, in eine Sklavensprache zu verfallen, sobald Aufseher, Miss Wharton, Tom Sawyer oder Huck Finn in der Nähe sind. Es ist eine Kunstsprache.
Jim nämlich ist ein gebildeter Mann, er hat sich Lesen und Schreiben beigebracht, steckt seine Nase heimlich in philosophische Bücher, und er unterrichtet seine Tochter über die richtigen Verhaltensweisen und in der korrekten Sprache gegenüber den Herrschaften.
Artifizieller Dialekt mit wunderbaren Verschleifungen
„Dat be sum of conebread lak neva I et“ – so heißt der Satz im englischen Original. Man hört und sieht, wie elegant Nikolaus Stingl diesen Tonfall in einen artifiziellen Dialekt übersetzt hat, der mit Verschleifungen arbeitet, auf korrekte Verbkonjugation verzichtet, Hilfsverben weglässt usw.
Mit diesem künstlichen und als künstlich herausgestellten Sklavenslang erzeugt Everett einen erstaunlichen Effekt: Die Herrschaftssprache wird lächerlich gemacht, indem den Herrschenden mit einer Kunstsprache begegnet wird – als müsste man mit ihnen wie mit Kindern sprechen, weil sie nicht aus ihrer schrecklichen, rassistischen Phantasiewelt gerissen werden sollen.
Die schwarzen Figuren sind sich ihrer Lage bewusst, aber sie verweigern sich der Opferrolle – vielmehr tricksen sie ihre Peiniger aus. Zugleich versuchen sie damit, von deren Brutalität verschont zu bleiben.
Ein Bleistiftstummel wird der größte Schatz
Das lässt sich noch auf heutige Zeiten übertragen: Schwarze Eltern bringen ihren Kindern früh bei, sich in Gegenwart weißer Polizisten bloß nicht falsch zu bewegen oder etwas Falsches zu sagen – um nicht „versehentlich“ erschossen zu werden.
Wie Mark Twain bedient sich Everett einer Vielzahl von Tonfällen – über die Sprache selbst wird von Unterdrückung und Gewalt und von Akten der Emanzipation erzählt. Etwa wenn er seinen Jim über Himmel und Hölle, über „proleptische oder dramatische Ironie“, über die subversive Kraft der Literatur und des Lesens sinnieren lässt.
Ein Bleistiftstummel, für den ein anderer Sklave sein Leben gelassen hat, wird für ihn zum gewichtigen Schatz – das Schreibwerkzeug hat eine größere Bedeutung und Wirkmacht als eine Waffe; es wird zum Symbol der Befreiung schlechthin.
Riskante Flucht auf einem Mississippi-Floß
Darüber hinaus ist „James“ aber – wie auch Twains „Huckleberry Finn“ – eine grandios gebaute, satirische, anrührende, höchst unterhaltsame Abenteuergeschichte: eine in Episoden erzählte Reise in die Freiheit, eine Flucht auf dem Floß über den Mississippi, an dessen Ufern allerlei Gefahren in Form von Gaunern und Sklavenjägern lauern.
Jim reißt aus, weil er von seiner Besitzerin verkauft werden soll. Huck wiederum flieht vor seinem gewalttätigen Vater – der bei Everett womöglich gar nicht Hucks Vater ist. Mal ist „James“ sehr nah dran an Twains Klassiker, etwa wenn Huck sich als Mädchen verkleidet, um Informationen und Nahrung zu beschaffen; oder wenn Jim und er zwei Trickbetrügern begegnen, die sich als Nachfahren eines Herzogs und eines Königs ausgeben.
Zwischendurch trennen sich die Wege der Flüchtenden, und natürlich erleben wir nun die Geschehnisse aus dem Blick von Jim selbst: Er wird beispielsweise von einer Gruppe von Minstrel-Sängern gekauft und so geschminkt, dass er bei Auftritten als Weißer durchgeht, der sich als Schwarzer verkleidet. Auch ein anderer, sehr hellhäutiger Schwarzer lebt heimlich unter den „Virginia Minstrels“:
Percival Everetts Hommage an Mark Twain – an seinen Humor und seine Menschlichkeit – nimmt viele Wendungen. „James“ schreibt die Geschichte weiter und um.
Auch wenn der Roman im 19. Jahrhundert spielt: Er ist absolut zeitgenössisch, radikal, inspirierend. Er spricht von der Freiheit der Literatur, Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen und Randfiguren ins Rampenlicht zu rücken.
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