Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gilt Pazifismus als unzeitgemäß. Den einen Begriff des "Pazifismus" gibt es aber gar nicht. Keinesfalls jeder Pazifist und jede Pazifistin lehnt Gewaltanwendung ab.
Es gibt keinen einheitlichen Begriff von Pazifismus
Das Wort "Pazifismus" kommt ursprünglich aus dem Lateinischen: "pax" = "Frieden" und "facere" = "machen". Wie der Frieden "gemacht" werden soll, durch Diplomatie, Waffengewalt oder durch gewaltfreie Mittel bleibt allerdings unklar. Genau deshalb – wegen dieser Unschärfe – konnte sich ab 1901 der Begriff "Pazifismus" innerhalb der damals wie heute sehr vielfältigen und bunten Friedensbewegung etablieren.
Unter dem Etikett "Pazifismus" sammelten sich verschiedene Vereinigungen, die sich für den Frieden einsetzen, Kriegsgefahr reduzieren und die Militarisierung verhindern wollten:
- religiöser Pazifismus,
- bürgerlicher Pazifismus,
- moralisch-weltanschaulicher Pazifismus,
- anarcho-syndikalistischer Pazifismus,
- politisch-wissenschaftlicher Pazifismus und soziale Verteidigung
Es gibt in der wissenschaftlichen Literatur bis zu 20 verschiedene Unterscheidungen von Pazifismus.
Christlicher Pazifismus kämpft für Eindämmung jeglicher Gewalt
Die Bergpredigt bildet den spirituellen Hintergrund des christlichen Pazifismus: Du sollst nicht töten!" (Matthäus, Kapitel 5). "Leiste dem Bösen keinen Widerstand, sondern wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die andere hin." Diese Form der Moral wird auch als Gesinnungsethik bezeichnet. Es kommt letztlich auf die reine Lehre an und ein Prinzip, das in jedem Fall eingehalten werden soll.
Bekanntester Vertreter dieser von festen, unumstößlichen Prinzipien geprägten Form des gewaltfreien Pazifismus war Gandhi, der den antikolonialen Kampf in Indien gegen England gewaltfrei führte.
Bürgerliche Pazifisten wollen Kriege auf diplomatischem Wege verhindern
Der Philosoph Immanuel Kant forderte bereits im 18. Jahrhundert die diplomatische Lösung von Konflikten. So versuchten die bürgerlichen Pazifisten durch parlamentarische, völkerrechtliche Arbeit, juristische Bedingungen zu schaffen, dass es zwischen Staaten nicht zu einem Krieg kommt. Die Dinge sollten dann auf diplomatischem Weg geregelt werden.
Ein Völkerrecht soll Kriege verhindern, indem es gegen Angriffskriege auch gewaltsam vorgeht. Die Grundlagen für diese Ziele fanden sich in Kants Schrift "Zum ewigen Frieden", die äußeren Frieden mit bürgerlichen Freiheitsrechten verbindet.
Kant hatte die Hoffnung, dass freie Staatsbürger nicht leichtfertig Kriege anzetteln, unter denen sie leiden müssten. Zwischen Staaten, so Kant, sollten Bündnisse entstehen – Föderationen – und Schiedsgerichte eingerichtet werden, um Konflikte vernünftig und möglichst friedlich zu lösen.
Kriege gegen Angreifer und Länder, die sich den Schiedsgerichten nicht fügten, sollten möglich sein. Die bürgerlichen Pazifisten des 19. Jahrhunderts griffen diese Gedanken auf.
Neben humanitären Gedanken bestimmten wirtschaftliche diese Strategie bürgerlicher Kräfte: Kriege seien Gift für freien Handel und freien Kapitalfluss, Gift auch für die Emanzipation des Bürgertums.
Deutschland als Obrigkeits- und Militärstaat
Anhängerinnen und Anhänger des bürgerlichen Pazifismus veranstalteten vor und nach dem Ersten Weltkrieg internationale Friedenskongresse und versuchten, in den Parlamenten Einfluss zu gewinnen.
Die deutsche Arbeiterbewegung und die Sozialdemokraten, die sich in ihren hierarchisch-militärischen Strukturen der deutschen Gesellschaft anglichen, stellten Militär und Krieg nicht grundsätzlich in Frage. So stimmten Sozialdemokraten Kriegskrediten zu, wandten sich gegen Kriegsdienstverweigerer und Deserteure und unterstützen mehrheitlich den Krieg 1914 bis 1918.
Doch es gab Ende des 19. Jahrhunderts eine andere politische Minderheit, die Krieg und Militarismus kompromisslos ablehnten:
Anarcho-Syndikalisten wollten Kriege vermeiden durch Herrschaftsabbau und Entmächtigung des Staates
1891, 1893 gab es von linkssozialistischer und anarcho-syndikalistischer Seite Vorschläge, im Falle eines Kriegsausbruches zum Streik aufzurufen und auch den Kriegsdienst und den Krieg zu verweigern. In allen kriegsbeteiligten Ländern sollten Arbeiter und Bauern in den Generalstreik treten, so die Anarchisten.
Sich in Kriegen gegenseitig abzuschlachten, sei nicht im Interesse der ausgebeuteten Klassen. Deshalb müsse der Krieg verhindert werden durch eine revolutionäre Beseitigung der Staatsmacht.
Relativer Pazifismus lässt Kriege als letztes Mittel gegen Tyrannen zu
Bertrand Russell bezeichnete seinen Pazifismus als "relativen Pazifismus" . Er meinte, "dass nur sehr wenige Kriege es wert sind ausgetragen zu werden, und die Übel des Krieges fast immer schlimmer sind, als sie den aufgeheizten Bevölkerungen bei Kriegsanbruch erscheinen."
Russell hielt zum Beispiel den Krieg gegen Nazi-Deutschland für gerechtfertigt. Die Kriege der USA in Korea und Vietnam hielt er für ein Verbrechen. Individuellen Pazifismus, also Kriegsdienstverweigerung, müsse, so Russell, ein Staat akzeptieren, ansonsten müsse eine mit Militärmacht ausgestattete Weltregierung Angriffskriege notfalls gewaltsam unterbinden.
Ansonsten warnt Russell davor, dass Krieg "ungeheuerliches Leid über die Welt (bringt) und nach dem Krieg werden wir genau so wahnsinnig sein wie Hitler."
Verantwortungsethik fragt nach den Folgen eines Krieges
Verantwortungsethiker setzen nicht auf feste Prinzipien, die man einhalten soll, zum Beispiel: "Du darfst nicht töten". Sie plädieren dafür, sich immer bewusst zu machen, dass wir für die Folgen unseres Tuns und Lassens verantwortlich sind. Krieg ist deshalb schlecht, weil er von allem fast immer die schlimmeren Konsequenzen nach sich zieht als der Verzicht auf Krieg. Der Gegenentwurf hierzu ist ein militaristischer Heilsglauben, bei dem Kriegsfolgen nicht hinterfragt werden dürfen und der sich gegenüber jeglichen rationalen Überprüfung versperrt.
Soziale Verteidigung als Alternative zu Gewalt und Krieg
Was häufig übersehen wird: Zu Beginn des Ukraine-Krieges gab es zivile, gewaltlose Formen des Widerstands. Mitte März 2022 marschierte die russische Armee in der Stadt Slavutych ein. Als sie den Bürgermeister festgenommen hatten, hat sich eine wachsende Menge ziviler Bürger von Slavutych auf den Straßen gesammelt. Sie hielten ukrainische Symbole hoch, sangen Lieder und haben die russische Armee angelächelt, aber sie haben keinerlei Anstrengungen unternommen, Gewalt auszuüben.
Die russische Seite hat mit Schreckpatronen in die Luft geschossen. Das war eine erschreckende Aktion, aber die Demonstrantinnen und Demonstranten haben sich davon nicht beeindrucken lassen. Es gab Verhandlungen: Der Bürgermeister wurde freigelassen, die Bevölkerung wehrte sich nicht gewaltsam und ließ ihre Wohnungen auf Waffen durchsuchen. Dort gab es keine Toten.
Feindbild "Pazifismus"
Zeitgemäß ist zweifellos das Feindbild "Pazifismus". Differenzierungen bleiben auf der Strecke. So geraten Korrektive zur herrschenden Kriegslogik aus dem Blick, gewaltfreie Alternativen ebenso – und, wie in jedem Krieg, auch die, die sich dem Krieg entziehen wollen, pazifistische Kriegsdienstverweigerer und Deserteure. Sie werden auch heute in vielen Ländern wieder verfolgt und inhaftiert. Auch Frieden im Ukrainekrieg scheint in weiter Ferne:
SWR 2023
Bildung Friedenspädagogik – In der Schule über Krieg sprechen
Bisher waren Kriege an Schulen meist Stoff aus Geschichtsbüchern. Auf den Ukraine-Krieg – mitten in Europa – waren weder Lehrkräfte noch die Friedenspädagogik vorbereitet.
Archivradio-Gespräch Die deutsche Friedensbewegung – Was bleibt vom Pazifismus?
Am 10. Juni 1982 demonstrieren in Bonn eine halbe Million Menschen gegen die NATO. Es ist der Höhepunkt der deutschen Friedensbewegung. Heute ist es ruhiger um sie geworden. Wo stehen deutsche Pazifisten angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine?
15.6.1983 Heiner Geißler: "Pazifismus hat Auschwitz erst möglich gemacht"
15.6.1983 | "Der Pazifismus der 30er-Jahre – der sich in seiner gesinnungsethischen Begründung nur wenig von dem unterscheidet, was wir in der Begründung des heutigen Pazifismus zur Kenntnis zu nehmen haben – dieser Pazifismus der 30er-Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht." Mit diesem Satz provozierte der CDU-Politiker Heiner Geißler die Friedensbewegung, die sich gegen die Stationierung von Pershing-Raketen in der Bundesrepublik stark machte.
Die Diskussion um den gescheiterten NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung von Pershings hatte die Friedensbewegung massiv mobilisiert. Friedensbewegte einstige SPD-Anhänger liefen zu den Grünen über, die im März 1983 in den Bundestag einzogen. Sie saßen also erst ein paar Wochen im Parlament, als Heiner Geißler (CDU) diese Rede hielt. Er beginnt mit einer etwas bemühten Begründung, warum ausgerechnet er als Bundesfamilienminister zum NATO-Doppelbeschluss Stellung nimmt. Mehrfach spricht er die grünen Abgeordneten Otto Schily und Joschka Fischer an, die wegen ihrer häufigen Zwischenrufe vom Parlamentspräsidenten Richard Stücklen gerüffelt werden. Etwa ab 00:17:00 kommt Geißler auf den Pazifismus und Auschwitz zu sprechen.
15.6.1983 Geißler, der Pazifismus und Auschwitz – Kritik von Hildegard Hamm-Brücher
Am 15.6.1983 provoziert der CDU-Politiker und Familienminister Heiner Geißler im Bundestag die Gegner der Nachrüstungspolitik mit der These: "Der Pazifismus der 30er-Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht".
Die komplette Rede Heiner Geißlers gibt es ebenfalls im SWR2 Archivradio, aber vor allem dieser Satz ist hängengeblieben – und Geißler bekam dafür heftige Kritik, auch aus den Reihen der FDP, die ja mit der Union zusammen regierte. Noch am selben Tag äußert sich die FDP-Abgeordnete Hildegard Hamm-Brücher im Süddeutschen Rundfunk.
13.5.1999 Grüner Außenminister Joschka Fischer für Kriegseinsatz der Bundeswehr im Kosovo
13.5.1999 | Kaum im Amt, steht der erste Grüne Außenminister Joschka Fischer vor kriegsentscheidenden Fragen. Auf dem Sonderparteitag der Grünen in Bielefeld rechtfertigt er den ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr mit Verweis auf "Nie wieder Auschwitz".
Hintergrund: Angesichts ethnischer Säuberungen bereitet die NATO einen Militäreinsatz vor. Joschka Fischer sieht keine Alternative. Doch die Grünen – mit ihrer pazifistischen Tradition – tun sich schwer, den Kurs ihres Außenministers mitzutragen. Auf einem außerordentlichen Parteitag kommt es zur Zuspitzung.
Noch bevor Joschka Fischer mit seiner Rede beginnt, wird er mit einem Farbbeutel beworfen. Sein Trommelfell reißt. Er wird kurz behandelt, redet dann aber trotzdem . Unter massivem Personenschutz rechtfertigt er seinen Standpunkt auch mit Verweis auf die deutsche Geschichte: "Nie wieder Auschwitz". Im Anschluss bekommt er die Zustimmung des Parteitags.