Kinder schreien lassen, sie bloß nicht verwöhnen– die NS-Pädagogik war brutal und auch lange nach dem Krieg nicht vorbei. Bis heute leiden Menschen unter dieser Erziehung. Und noch immer gibt es eine Tendenz zur Härte gegenüber Kindern.
Die Angst vor dem verwöhnten Kind ist eine typisch deutsche Angst und noch immer weit verbreitet, erklärt der renommierte Bindungsforscher Karl Heinz Brisch, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Viele Eltern hätten auch heute noch immer das Gefühl, sie müssten härter durchgreifen, um keine potentiellen Tyrannen heranzuziehen.
Das habe mir ja schließlich auch nicht geschadet - ein Irrglaube mit fatalen Folgen bis in die heutige Generation. Die Ursachen für diese Erziehungsmuster sehen Bindungsforscher und -forscherinnen unter anderem in der Pädagogik während des Nationalsozialismus.
NS-Erziehung: ein unterschätztes Problem
Denn um eine Generation aus Mitläufern und Soldaten heranzuziehen, forderte das NS-Regime damals von Müttern, die Bedürfnisse ihrer Kleinkinder gezielt zu ignorieren. Sie mit Liebesentzug und auch Gewalt zu bestrafen. In älteren Ratgebern finden sich die brutalen Erziehungsideologien dieser Zeit wieder.
![Hitler posiert mit Kindern (Foto: picture-alliance / Reportdienste, zur redaktionellen Verwendung) Hitler posiert mit Kindern](/swrkultur/wissen/1713342811502%2Chitler-kinder-100~_v-16x9@2dS_-6be50a9c75559ca1aaf1d0b25bae287afdcd877a.jpg)
"Auch das schreiende und widerstrebende Kind muss tun, was die Mutter für nötig hält, und wird, falls es sich weiterhin ungezogen aufführt, gewissermaßen, kaltgestellt‘, in einen Raum gebracht, wo es allein sein kann, und so lange nicht beachtet, bis es sein Verhalten ändert. Man glaubt gar nicht, wie früh und wie rasch ein Kind solches Vorgehen begreift."
Dieses Zitat stammt aus dem Buch "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, das 1934 von der Lungenfachärztin und überzeugten Nationalsozialistin Johanna Haarer geschrieben wurde. Hitler persönlich soll den Erziehungsratgeber empfohlen haben. Haarers Buch wurde zum Besteller während der NS-Zeit und in abgemilderter Form sogar noch bis 1987 verlegt. Der Geist der NS-Erziehung habe Generationen von Müttern geprägt:
"Unsere Mütter, Großmütter vor allen Dingen, hatten alle das Buch im Regal stehen und bekamen das zur Geburt ihrer Kinder geschenkt. Auch noch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs."
Karl Heinz Brisch warnt schon lange vor den unterschätzten Folgen dieser NS-Pädagogik auf die heutige Gesellschaft. Viele Betroffene, die für diese Recherche interviewt wurden, erzählen von Schwierigkeiten, Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen, finden keinen Zugang zu ihren Gefühlen und entwickelten Krankheiten wie Depressionen oder Alkoholsucht.
Angst statt Urvertrauen
Kinder, die nicht feinfühlig oder auch gewaltsam behandelt wurden, können ihr ganzes Leben unter diesen zerrütteten Eltern-Kind-Beziehungen leiden. Sie gelten als "unsicher gebunden":
"Statt Urvertrauen haben diese Menschen Urangst innerlich an Bord. Und das prägt natürlich das ganze weitere Leben, wie sie dann in Partnerschaften mit ihren Kindern, in Beziehungen mit anderen Menschen umgehen und ob sie sich da anvertrauen können oder da eine Grundangst ist."
Johanna Haarer gilt heute als Inbegriff für die NS-Erziehungsideologie. Sie wurde sicherlich gefördert im Nationalsozialismus, erklärt Sonja Levsen, Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Tier, warum ausgerechnet Haarer derart bekannt wurde.
Doch neu war das nicht, was Haarer da schrieb: Sie knüpfte mit ihrem Buch an bereits bestehende Erziehungsmodelle an. Eine bindungsarme Pädagogik, die auch gerne als schwarze Pädagogik bezeichnet wird, hatte hier wie auch in anderen Ländern zum Leid vieler Kinder eine lange Tradition.
"Versagt auch der Schnuller, dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen. Das Kind begreift unglaublich rasch, daß es nur zu schreien braucht, um eine mitleidige Seele herbeizurufen […]."
![Wahlplakat fordert Frauen auf, Hitler zu wählen (Foto: IMAGO, imago/teutopress) Wahlplakat fordert Frauen auf, Hitler zu wählen](/swrkultur/wissen/1712950183486%2Cwahlplakat-hitler-familie-100~_v-16x9@2dS_-6be50a9c75559ca1aaf1d0b25bae287afdcd877a.jpg)
Transgenerationale Weitergabe
In manchen Familien wirkt das Kindheitstrauma über Generationen fort. Die psychologische Forschung spricht in solchen Fällen von transgenerationaler Weitergabe; sind die Erlebnisse besonders schlimm von transgenerationalem Trauma. Verhaltensmuster und Erfahrungen werden von einer Generation an die nächste weitergegeben. Insbesondere dann, wenn diese nicht verarbeitet wurden, ist es schwierig, bestimmte Muster aufzubrechen, sagt Professorin Luise Reddemann, Psychoanalytikerin und Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin.
"Wenn man sich Familiengeschichten anschaut, die Geschichte der Eltern und Großeltern, dann sieht man eigentlich immer: ja, die haben auch viel Gewalt erlebt. Das ist nicht einfach aus heiterem Himmel aus denen herausgekommen, die Gewalt, die sie ihren Kindern antun oder angetan haben."
Das sind häufig auch Erfahrungen, die sehr früh passiert sind, wie beispielsweise das Schreienlassen, und die dann tief in unseren emotional neuronalen Netzwerken verankert sind und auch durch Psychotherapie nicht so einfach zu erreichen sind.
Eltern, die eine entsprechende Vorgeschichte aus ihrer Kindheit mitbringen, fällt es dann oftmals schwerer, feinfühlig auf ihre Kinder zu reagieren und gute Bindungen zu ihnen aufzubauen, erklärt Professor Brisch, der unter anderem aus diesem Grund SAFE, eine Art Elternführerschein ins Leben gerufen hat, in dem er Eltern erklärt, wie sie von Geburt eine gute Bindung zu ihrem Kind aufbauen können.
![Kinder "zur Abhärtung" einfach schreien zu lassen, hinterlässt Spuren im Gehirn. (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance / Bildagentur-online/Tetra-Images) Kinder "zur Abhärtung" einfach schreien zu lassen, hinterlässt Spuren im Gehirn.](/swrkultur/wissen/1712950183464%2Ckind-schreit-100~_v-16x9@2dS_-6be50a9c75559ca1aaf1d0b25bae287afdcd877a.jpg)
Tradierte Erziehungsmuster sind hartnäckig
Wie genau Traumata von Generation zu Generation weitergegeben werden, ist noch unklar. Die Längsschnittstudie des Universitätsklinikum Ulm "TRANS-GEN" zu Einflüssen mütterlicher Kindheitserfahrungen auf ihre Kinder beobachtet seit 2013 Familien. Sie konnte zum Beispiel auch belegen: etwa 10 bis 30 Prozent der Mütter und Väter geben ihre eigenen Erfahrungen an die Kinder weiter. Aber: viele tun es eben auch nicht.
Und hier kommt die große Hoffnung: Ein Großteil schafft es, aus alten Mustern auszubrechen, unabhängig davon, wie lieblos oder gewaltvoll die Kindheitserfahrungen waren. Woher diese Widerstandskraft kommt, interessiert derzeit viele Forschende. Vieles ist noch unerforscht.
Was sich aber auch hier abzeichnet: Es kommt auch hier sehr darauf an, welche Möglichkeiten die Menschen hatten, ihre Kindheitserfahrungen zu verarbeiten.
"Es braucht ein Bewusstsein für das eigene Leiden und eine Entscheidung: Das will ich meinen Kindern nicht antun. Und im nächsten Schritt muss ich mir überlegen: wie kann ich das hinkriegen? Das muss man sich erarbeiten, wie auch immer. Am besten auch durch Therapie. Dann kann das schon funktionieren, den Kreislauf zu durchbrechen."
Reddemann hat den Eindruck, dass heute immerhin im Zuge einer bedürfnisorientierten Erziehung viele Eltern liebevoller mit ihren Kindern umgehen als früher. Diese Idee, dass kleine Kinder Tyrannen sind, ist allerdings nicht ganz verschwunden.
Es gibt schon wieder Erziehungsratgeber, die das deutlicher vertreten: Jedes Kind kann schlafen lernen zum Beispiel, kritisiert Reddemann. Ein Buch, das Kinder darauf konditionieren soll, alleine einzuschlafen. Auch Karl Heinz Brisch betont, wie tief verankert dieses Erbe dieser Erziehung immer noch in uns ist, sieht aber dennoch auch Hoffnung:
"Je mehr wir darüber sprechen, wie positiv die Effekte einer liebevollen Erziehung sind, umso mehr Eltern werden zumindest mal nachdenklich. Und wenn Eltern, dann spüren ich kriegs überhaupt nicht auf die Reihe, ich werde selber so gestresst durch meine Kinder, und sich dann in Beratungsstellen Unterstützung holen und eine Idee bekommen, wie sie es anders machen könnten, um auch ihre eigenen Geschichten zu verarbeiten, dann sind wir schon auf dem richtigen Weg. Das gibt dann Hoffnung, dass sich über die Zeit, eine Gesellschaft verändern könnte und wir irgendwann friedvoller mit unseren Kindern, miteinander umgehen."
Erziehung und Familie im Nationalsozialismus
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16.12.1938 Adolf Hitler stiftet das Mutterkreuz
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Der Kinderonkologe Stefan M. Pfister entwickelt mit seinem Team neue Diagnose- und Therapieverfahren bei kindlichen Hirntumoren. | Mehr zur Sendung: http://swr.li/krebskranke-kinder | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: wissen@swr2.de | Folgt uns auf Mastodon: https://ard.social/@SWR2Wissen
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Nationalsozialismus
Diskussion Vorübergehend gescheitert – Was hat die Revolution von 1848/49 bewirkt?
23. Juli 1849: die badische Festung Rastatt ergibt sich nach wochenlanger Belagerung den preußischen Truppen. Die Revolution ist am Ende, die Vergeltung der Sieger gnadenlos, es folgen Jahrzehnte des politischen Terrors. Der Fall von Rastatt vor 175 Jahren symbolisiert das Scheitern der deutschen Revolution von 1848/49, weder trat eine freiheitliche Verfassung in Kraft noch wurde Deutschland Nationalstaat. Aber der Funken war gelegt, und heute fragen wir uns: Wäre ohne den Freiheitswillen jener Frauen und Männer unsere moderne Demokratie überhaupt denkbar? Was hat die Revolution bewirkt? Und wie sollen wir an sie erinnern? Gregor Papsch diskutiert mit Dr. Jörg Bong – Publizist; Prof. Dr. Jörn Leonhard – Historiker, Universität Freiburg; Dr. Irmgard Stamm – Historischer Verein Rastatt
Nationalsozialismus Hitler-Attentäter Stauffenberg – Wie die Widerstands-Ikone polarisiert
Am 20. Juli 1944 brachte der Wehrmachtsoffizier Stauffenberg im Führerhauptquartier eine Sprengladung zur Explosion, die Hitler beseitigen sollte. Hitler überlebte den Anschlag und ließ Stauffenberg noch am selben Abend als Landesverräter standrechtlich erschießen. Inzwischen gilt er als Sinnbild des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Von Pia Fruth (SWR 2024) | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/hitler-attentat-stauffenberg | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: daswissen@swr.de | Folgt uns auf Mastodon: https://ard.social/@DasWissen
Geschichte Vergleiche mit dem Holocaust – Eine historische Einordnung
Der Holocaust gilt als beispiellos. Doch darf man ihn deshalb nicht mit anderen Völkermorden oder den kolonialen Verbrechen vergleichen? Für den Historiker Stephan Malinowski ist die Frage müßig: Holocaustvergleiche sind für ihn Alltag, und ein Vergleich noch keine Relativierung. Im Science Talk bringt er Ordnung in die Debatte. (SWR 2024) | Mehr zur Sendung: http://swr.li/holocaust-vergleiche-historische-einordnung | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: daswissen@swr.de | Folgt uns auf Mastodon: https://ard.social/@DasWissen
Nationalsozialismus Erinnerungskultur in Familien - Ausstellung im Mainzer Landtag fordert zum Hören, Schauen und Mitmachen auf
Welche Rolle spielten die eigenen Vorfahren im Nationalsozialismus? Und wie viel wurde und wird darüber in Familien gesprochen? Eine neue Wanderausstellung stellt Ergebnisse eines Forschungsprojektes zu diesem Thema vor.
Eine bizarre Begegnung „Der Schatten des Kommandanten“: Die Nachkommen von Rudolf Höß treffen Auschwitz-Überlebende
Der Sohn und der Enkel des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß treffen in London die fast 100-jährige Überlebende Anita Lasker-Wallfisch. Eine hochinteressante und gleichzeitig problematische Doku.
Psychologie: aktuelle Beiträge
Gesellschaft Einsamkeit überwinden – Wege aus der sozialen Isolation
Einsamkeit ist ein wachsendes Problem unserer Gesellschaft. Das rückt sie zunehmend in den Fokus von Politik und Forschung. Welche Angebote können gegen soziale Isolation helfen? Von Sonja Ernst und Christine Werner (SWR 2023) | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/einsamkeit-ueberwinden | Wenn Ihr mehr über das Thema wissen möchtet, empfehlen wir die Das-Wissen-Folge "Quälendes Alleinsein – Macht Einsamkeit krank?" | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: daswissen@swr.de | Folgt uns auf Mastodon: https://ard.social/@DasWissen
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Studienergebnisse des Mannheimer Zentralinstituts für seelische Gesundheit zeigen, dass Jugendliche mit psychischen Problemen vom Einsatz einer KI-App profitieren. KI kann präzise Vorhersagen zur Stimmungslage machen und Übungen personalisieren.
Soziologie Sündenbock gesucht: Rassismus nach verlorenem EM-Finale
Große Sportereignisse wie die Fußball-EM können zu mehr Rassismus und Hasskriminalität führen. Etwa wenn Spieler, die zu einer ethnischen oder religiösen Minderheit gehören, für Niederlagen verantwortlich gemacht werden. Das hat eine Studie der Uni Köln ergeben.
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