"Muslimisch, männlich, desintegriert": Weil sie zu Paschas erzogen würden, scheitern muslimische Jungen häufiger im Schulsystem, so der Pädagoge Ahmet Toprak. Eine steile These.
Konservative Erziehung oder Ausgrenzungserfahrung als Ursachen?
Sie bleiben lieber unter sich, ihr Schulalltag ist eher konfliktbeladen, schwierig gestaltet sich auch die Arbeitssuche: Junge männliche Muslime, vor allem aus Großstädten, gehören oft zu den Bildungsverlierern. Das belegen Studien. Doch woran liegt es? An einer konservativ islamischen Erziehung, sagt der Pädagoge Ahmet Toprak in seinem Buch "Muslimisch, männlich, desintegriert – Was bei der Erziehung muslimischer Jungen schiefläuft". Für die liberale Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor hingegen behindern Ausgrenzungserfahrungen die Integration.
Der Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak wird nicht müde zu wiederholen, dass Ausbildung, ja, dass Bildung die Währung schlechthin ist. Toprak ist Dekan an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund. In seinem Buch, "Muslimisch, männlich, desintegriert", das im Oktober 2019 erschienen ist, beschreibt Ahmet Toprak muslimische Männer als antriebslos und irgendwie stecken geblieben in ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit. Und er findet, Diskriminierungserfahrungen als Grund dafür reichten nicht aus.
Nicht nur die Opferrolle, die bereitwillig angenommen werde, sei ein Problem. Ahmet Topraks Buch trägt den Untertitel: "Was bei der Erziehung muslimischer Jungen schiefläuft". In einer konservativ muslimischen Erziehung werde der Junge zu einem Familienoberhaupt in traditionellem Sinne erzogen. Genau das sei in der Schule aber nicht erwünscht. Analog dazu würden die Töchter dazu erzogen, auf Linie zu sein. Sie hätten keine Freiheiten, die häuslichen Aufgaben müssten sie in kurzer Zeit und präzise erfüllen. Die Töchter würden zu Hausfrauen erzogen, jedoch auch unbewusst auf Schulaufgaben vorbereitet, die termingerecht, schnell und ordentlich erledigt werden sollen.
Probleme sind sozioökonomisch bedingt und selten monokausal
Die Islamwissenschaftlerin und Religionspädagogin Lamya Kaddor schätzt Toprak als Person, doch seine Ansichten, sagt sie, empfände sie als veraltet und oft holzschnittartig. Denn gerade Probleme des Alltags seien in der Regel sozioökonomisch bedingt und selten monokausal. Oft scheitern Hausaufgaben an der Realität, wenn die Jugendlichen keinen Rückzugsort haben, indem sie in Ruhe arbeiten können, erzählt Kaddor. Beide sind sich jedoch einig: Bildung ist der Schlüssel zum Erfolg.
Bildung – der Schlüssel zum Erfolg
Der Anteil junger Menschen mit Migrationsgeschichte, die eine Ausbildung machen, ist seit 2004 konstant gestiegen. Auf niedrigem Niveau zwar, aber von 20 Prozent im Jahr 2004 auf 29 Prozent 2016. Danach wird es etwas schwierig, die Jugendlichen mit klassischer Migrationsgeschichte und die mit einem Flüchtlingshintergrund auseinander zu halten. Hinzu kommt: Vele Jugendliche mit Migrationsgeschichte haben einen deutschen Pass – die gut Integrierten, die eine Ausbildung machen und einen deutschen Pass haben, tauchen in diesen Statistiken überhaupt nicht mehr auf, bestätigt auch die Arbeitsagentur in Nürnberg auf Anfrage von SWR2 Wissen. Aber selbst wenn das Elternhaus nicht bildungsfern ist, wie es im Soziologendeutsch so gerne bezeichnet wird – gibt es noch weitere Hürden in der Gesellschaft, die den Menschen in der dritten Generation ihren Bildungsweg erschweren.
Räumliche Nähe konservativer Familien erzeugt "Nachbarschafts-Druck"
Religion, so Lamya Kaddor, könne Integration fördern – oder auch nicht, und man komme nicht voran in der Integrationsdebatte, wenn nur einheitliche Bilder von Islam-gläubigen Familien vermittelt werden. Denn was für Lamya Kaddor nur ein Aspekt ist, ist für Ahmet Toprak der Kern seiner Kritik. Er sagt, der Islam werde zum Problem, wenn Eltern die soziale Integration ihrer Kinder religiösen und vermeintlich kulturellen Gründen unterordnen. Ein Verhalten, dass sich potenziert, wenn viele muslimisch konservative Familien nah beieinander wohnen. In der Türkei gibt es dafür den Begriff "Nachbarschafts-Druck". Ein Mechanismus, der auch in Deutschland wirkt und in Ballungsgebieten besonders sichtbar wird.
In so einem Ballungsgebiet, das von zahlreichen sozialen Problemen geprägt ist, arbeitet Kazim Erdogan. Der Berliner Psychologe hat bundesweit von sich Reden gemacht. Im Stadtteil Neukölln hat er 2007 die erste Selbsthilfegruppe für türkeistämmige Männer und Väter gegründet im Rahmen seiner sozialen Arbeit beim Bezirksamt Neukölln. Doch er kennt auch genug deutsche Familien und sieht, dass die gleichen Themen auch diese Menschen betreffen, das heißt Ethnie, Geschlecht, Religion ist nicht ausschlaggebend sondern die soziale Herkunft.
Bildungsverlierer vor 50 Jahren: katholisch, weiblich und vom Land
Der Ausdruck "Muslimisch, männlich, desintegriert" stammt nicht von Toprak selbst, sondern von der Pisa-Studie aus dem Jahre 2015, welche zu dem Schluss kommt, dass der neue Bildungsverlierer muslimisch ist, aus einer Großstadt kommt und männlich ist. Vor 50 Jahren war der Bildungsverlierer im übrigen katholisch, weiblich und vom Lande. Die Wissenschaftler der Pisa-Studie betonen auf Anfrage von SWR2 Wissen, dass sie keine Erhebungen zur Weltanschauung oder zum Lebensraum machen.
Keine Chancengleichheit: Schulerfolg hängt von sozialer Herkunft ab
Die Pisa-Studie mahnt seit vielen Jahren jedoch an, dass der Erfolg von Schülerinnen und Schülern in Deutschland immer noch viel stärker als in vielen anderen europäischen Ländern von ihrer sozialen Herkunft abhängt. Und genau darum gehe es ihm auch, so Ahmet Toprak, dass die Chancengleichheit nicht überall gegeben sei. Die Selektion nach der Grundschule würde diese Ungleichheit nur noch verschärfen, so Ahmet Toprak. Lamya Kaddor stimmt zu und ergänzt, dass Integration keine Einbahnstraße ist.
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