Karlsruhe, 25.8.98
Lieber Armin Köhler,
endlich bin ich wahnsinnig geworden! Soweit kommt es durch die Programmhefteinführungstextschreiberei. Anbei also solche.
Bitte: ich korrigiere die abgetippte Endfassung
und: wenn Sie wollen, spreche ich den Text in ein Mikrophon. Beim Durchlesen habe ich (nach Art der Wahnsinnigen sensibel!) gespürt, daß da Hörspielhaftes hörbar spielt.
Harr, harrend der Faxabschrift
nebst grußreicherem Gewünsch
Ihr Wolfgang Rihm
Werk. Ein Führung für Einwerkung. Wehrung für Knie?
I
Jede und fast jeder weiß, was ich von "Werkeinführungen" durch Komponisten in Programmheften halte. Also. Trotzdem wirkt die offenbar sadomasochistische Konstitution aller Beteiligten dahin, daß
a) mich die sadistische Anfrage immer wieder erreicht, obwohl
b) jede und fast jeder weiß, daß ich zurückschlage, dabei aber
c) sehr leide, obwohl ich gleichzeitig lächle.
Einen Grund gibt es allerdings, warum man dennoch "Werkeinführungen" abdrucken sollte: Jeder und fast jede liest während Uraufführungen gerne im Programmheft. Die Möglichkeit, hier quasi unbemerkt Bildung zu vermitteln, sollte nicht ungenutzt vergeben werden. Ich habe also einiges zusammengestellt, was dem Laien und der Laiin interessant sein könnte, ja, es sogar dem desinteressierten Fachmann und seinem weiblichen Pendant ermöglicht, die eine oder andere Problematik zu erahnen.
II
Mein Stück ist sehr schön.
Ich habe es selbst komponiert.
Ich bin klug.
Nun analysiere ich mein Stück.
Das Stück beginnt bereits am Anfang. Es verwendet modernste Kompositionstechniken, die noch keiner kennt. Es ist sehr schön. Sehr kritisch. Sehr komplex. Sehr, sehr einfach. Es wiederholt sich Nichts. Es ist sehr komplex. Aber auch komplex. Es ist wunderbar, einzigartig, sehr intelligent konstruiert. Schon Adorno sagt, und Luhmann sieht darin eine späte Bestätigung McLuhan's, daß Derrida recht hat, wenn er gegen Heinrich Köselitz ins Feld führt, dieser irre, wenn er meine, daß nicht aller guten Mandelbrotmengen drei seien. (Vgl. hierzu: Boethius, De lnstitutione Musica: Tres esse musicas).
Daraus ergibt sich die Bedeutung meines Werkes für das kommende Jahrtausend. Besonders aber Takt 19 ist in seiner Komplexität selbst über das kommende Jahrtausend hinaus wegweisend angelegt: er kommt gar nicht oder zweimal vor!
III
"Beim Styx! Schon wieder eine Academie! Ich muß eine Einführung aus dem Rachen greifen. Man frißt's wie man's ausspeit. Und hungrig, die verdarbten Baar-Fliegen!! Potz, woher sollen denn die Wörter kömmen? Weiß es einer?? – werde ich mich wohl zu hüten wissen, daß meine Schrift nicht zu neuen Mißverständnissen Anlaß gebe (?)"
So ähnlich: Ludwig van Beethoven, in einem Geschäftsbrief am 13. August 1825 (Villingen).
IV
(Hier sollte das Hamann-Zitat zu stehen kommen. Dasselbe, das nun also später in der Double-Variation zu lesen ist. – Es trifft sich nicht schlecht: so entsteht freier Raum.
Etwa so einer:
Ich könnte da ja etwas hineinschreiben. Vielleicht einen Hinweis, einen ganz kleinen, daß die Form der Double-Variation sehr viel mit meinem Komponieren zu tun hat. Nein, nicht grundsätzlich, aber manchmal, öfter, vielleicht, immer seltener, mehr und viel, sehr viel, nichts. Das wäre vielleicht hilfreich. Lenkt aber wieder vom Hören ab. Deshalb lasse ich das und habe inzwischen beschlossen, beide Textvarianten abdrucken zu lassen, denn
1. ist es mehr,
2. lehrreich und
3. verdeutlicht es vielleicht einiges Undeutliche, oder auch nicht.)
V
Styx und Lethe. Der Titel stammt noch aus der Anfangsphase des Kompositionsprozesses, als alles noch ganz anders werden sollte. Aber es wurde etwas ganz anderes. Ich ließ den Titel stehen. Denn: unterschwellige Flußformen sollten es sein und sind es geworden. Wenn auch andere. Und der "gehaßte" Fluß, der Styx, bleibt aus eigener Kraft nicht überwindbar. Bleiern, grundlos – vielleicht ein See? Und Lethe, Vergessen, ist vielleicht der Musik ähnlich: sie ist ein "Gebirg", sie birgt etwas. Wahrheit? A-Lethe-ia? Musik "vergißt", deutlich vernehmbar, im Augenblick ihr Vorher. Sie ist selbstvergessen. Das kann man fühlen, mitfühlen. Ein Nerven-Subjekt (Nerven wie Draht-Saiten!) zuckt und "nervt" sich aus der Tiefe ins Hohe. Dort singt es. Wie Metall. Alles ist energetisch, vielleicht Wildnis. Vielleicht wieder ein dunkles Spiel? Ein Monodram? Am Anfang sollte es das nicht werden. Es sollte gedämpft, kühl, keusch, "klassisch", am Rande des Hörbaren fließen. Warum kam alles so anders? Ich weiß es nicht. Fragt es selbst. Da kommt es.
VI
Das Stück ist Lucas Fels gewidmet. Hoffentlich gefällt's ihm.
Es ist sehr schwer zu spielen.
Mir gefällt es. Nein, ich weiß noch nicht – Ja. Doch.
Es wird in Donaueschingen uraufgeführt.
Hans Zender wird es dirigieren.
Es ist nackt.
Es ist schön. Ich bin stolz.
Ja, es gefällt mir. Oder?
Ich liebe es.
Da kommt es.
Nein?
Doch, das ist es. Ja?
VII
Hier noch ein Formplan:
- Festivaljahrgänge
- Donaueschinger Musiktage 1998
- Themen in diesem Beitrag
- Wolfgang Rihm, STYX UND LETHE Musik für Violoncello und Orchester
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