Donaueschinger Musiktage 2014 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2014: "Sound As Will"

Stand
Autor/in
Wolfgang Rihm

Musikalische Freiheit (1983/1996)

(…) Nun ist einer unbegrifflichen Kunst wie der Musik das Thematisieren von Imagination paradoxerweise naheliegender als zum Beispiel in begriffsgebundener Artikulation, in Literatur. Heißt das nun, da das Wesen des Musikalischen bereits stofflich der Imagination so verwandt ist, dass es genügt, das eben Gedachte momentan zu fixieren, um einen reinen Zustand der Erfindung zu dokumentieren? Bestimmt heißt es das nicht, da ja gerade das Öffnen der Fessel zuallererst schon ein Erfindungsakt sein muss und nicht allein Hinnahme von Vorfunden. Genauer: Der Imaginationsfluss muss ungehindert fließen können, aber die Entfesselung ist bereits potenzierte Imagination, zu der ich nie gelangen würde, wenn ich einfach den Gedanken "freien Lauf" ließe. Diese Gedanken würden sich im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten frei vorkommen, sich sozusagen frei fühlen, wenn sie dazu fähig wären, es aber nicht sind, da sie nie aus sich herausgerieten. Gedankliche Bewegung wäre also im Kreislauf festgehalten, der freie Lauf aber bedarf des Katapults, einer Art Urknalls, jedenfalls des energetischen Schubes; und darin erkenne ich den eigentlichen imaginativen Akt. Dieser Akt muss in völliger Freiheit sich ereignen können, um Freiheit überhaupt nach sich zu ziehen. Wenn also am Beginn von Erfindung ein alles überschattender Lichtblitz steht, ein strahlendes Dunkel, an dessen rückhaltlos angenommener Ungewissheit das Unbekannte während der Niederschrift ins Bewusstsein dringt, wenn also Frage und Antwort am Anfang des schöpferischen Prozesses aufgehoben sind, aber nicht durch Einheit ersetzt, dann können es nicht Reglements, Regeln sein, aus deren Erfüllung und vorgegebener Ausbaufähigkeit Kunst entsteht, sondern, dessen bin ich gewiss, es muss ein Zustand von Natur selbst sein, aus dem Kunst ins Entstehen drängt.

Kunst, die Beschäftigung mit Kunst und das Machen von Kunst, ist bereits von sich aus eine Aufforderung zu grenzenloser Freiheit. Da kann es kein Fügen geben, und dennoch herrscht hier auf brutalste Art das Recht des Stärkeren, nämlich des stärkeren Gedankens; jegliche Strategie ist zwecklos, hat höchstens im Moment gewisse Folgen, meist markttechnischer Art. Hier ist durchaus ein gewisser Stoizismus erlaubt: was kommt, kommt. Gestrampel jedweder Art arbeitet sich selbst ab. Das heißt aber auch, dass hier gerade nicht Hoffnung auf güldene Prinzipien zu setzen ist, auf unabänderliche Werte der Kunst, auf Wahres, Schönes, gar Gutes. Es herrscht Ungewissheit, das einzige Bewegungspotenzial des Geistes. Es scheint, dass in dem Maße, wie die umgebende Natur bedroht ist und sich auf dem Rückzug befindet, die Prinzipien des Kreatürlichen und Vegetativen sich im Künstlerischen verwirklichen müssen. Das haben sie zwar vorher auch schon, aber der Gegenbildcharakter von Kunst tritt gegenwärtig plastischer heraus. Darin sehe ich auch die Aufgabe von Kunst: in repressiver Zeit nicht eben Zufluchtsort, sondern Energiespeicher zu sein.

Die Verbindung von Kunst und Freiheit hat im kreativen Prozess, also im Moment des Machens, ihren offensichtlichen Ort: Dort ist Kunst mit Freiheit, zumindest mit einer spezifischen Art von Freiheit, identisch; dort aber ist auch Freiheit erkennbar als Voraussetzung für Kunst, und damit ist jetzt die imaginative Freiheit gemeint, über die zu sprechen dem Künstler am meisten ansteht. Davon kann er ein Lied singen; aber hat er nicht schon gesungen? Ein Lied gemacht, es hören lassen? Muss er noch einmal beginnen, es erklären? Wird nicht am gesungenen Lied vernommen, ob er frei war, oder ob er sich hat binden lassen, freiwillig, mit verbundenen Augen oder unter heftiger Gegenwehr, dabei alles durchschauend? Sowie er über Kunst spricht, muss der Künstler immer wieder von neuem beginnen, neu ansetzen, da im anderen Aggregatzustand der Gedanke auch andere Verbindungen eingeht. Ich habe das vorhin gespürt beim Niederschreiben des Wortes Freiheit. Das geschriebene Wort Freiheit kann Ausdruck größter realer Unfreiheit sein. In welcher Freiheit befindet sich doch der, der so wie ich jetzt über Freiheit denken, schreiben und reden kann und dabei keinerlei Einschränkung der physischen Dimension dieses Begriffs zu fürchten hat. Und das Physische von Freiheit äußert sich dann, wenn sie entzogen wird. Dies nur am Rand, aber es steht dennoch in der Mitte: Freiheit als künstlerische Freiheit auszudenken, setzt zumindest relative physische Freiheit voraus. Aber ist auch das wirklich richtig? Gibt es nicht unübersehbar viele Kunstäußerungen, die in physischer und psychophysischer Gefangenschaft entstanden sind? Ja noch extremer gefragt, ist nicht der künstlerische Schaffensprozess selbst oft eine Form des Freiheitsentzugs, eine Form von Lebendig-begraben-Sein? Ich habe immer in den vielen Lebendig-Begrabenen bei Edgar Allan Poe Hinweisgestalten auf den künstlerischen Schaffensprozess gesehen; nicht Gespenster (…).

Wolfgang Rihm, aus: ausgesprochen, Schriften und Gespräche, Band 1, Winterthur 1997

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Wolfgang Rihm