Zwei Studien für Sopran und Streichquartett
Neben rund anderthalb Dutzend Streichquartettkompositionen hat Wolfgang Rihm auch einige Stücke für erweiterte Quartettbesetzung geschrieben: Interscriptum (mit Klavier), Fetzen 3 (mit Akkordeon) und 4 Studien zu einem Klarinettenquintett. Mit Akt und Tag folgen nun zwei Studien für Sopran und Streichquartett. Der kryptische Titel verweist auf den latent dramatischen Charakter der beiden bruchlos aneinander gefügten Teile. Sie sind überschrieben mit "Akt 1" und "Akt 2", wobei auf "Akt 2" ein Texthinweis folgt: "William Blake: Day". In Satz- und Ausdruckscharakter verhalten sie sich wie Tag und Nacht – zwei Polaritäten, die sich ergänzen, die aber auch Einsprengsel der jeweils anderen Seite enthalten.
Im ersten Teil mit seiner somnambulen Atmosphäre beschränkt sich die Sopranstimme auf Vokalisen: vorwiegend mezzovoce, oft in die tiefsten Regionen absinkend, zum akkordischen Instrumentalsatz einen hoquetus-artigen, monotonen Gegenrhythmus bildend, der immer wieder durch kleine abrupte Akzente gestört wird. Im zweiten Teil singt sie den Text von William Blake in hochexpressiven Melodiebögen aus; der Stimmumfang umfasst zwei Oktaven, die strahlenden Spitzentöne sind dynamisch sorgfältig modelliert. Dieser "Akt 2" bezieht seine geballte, in einer furiosen Stretta explodierenden Kraft aus Blakes großartigem Bild der grausamen, waffenbewehrten Sonne – eine archetypische Vorstellung, die sich bis zum kosmischen Drama von Phaetons Sturz mit dem Sonnenwagen bei Ovid und noch weiter zurückverfolgen lässt.
Den dramatischen Kontrast zwischen den beiden "Akten" unterstreicht Rihm durch eine klangfarbliche Verfremdung, indem er den ganzen ersten Teil mit Dämpfern spielen lässt. Zunächst sind es normale Dämpfer, später so genannte Hoteldämpfer aus Metall, die den Streicherton auf diskrete Zimmerlautstärke reduzieren und in den Obertönen stark beschneiden. An dieser Stelle, die rhythmisch und dynamisch plötzlich ausbricht aus dem bis dahin vorherrschenden verhaltenen Tonfall, spielen die Streicher im dreifachen Forte, doch die Musik klingt wie hinter verschlossenen Türen. Die paradoxe Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Affekte ist charakteristisch für die Dialektik von Nähe und Ferne, die Rihm im Umgang mit Blakes Text an den Tag legt. Bei der virtuosen Schluss-Stretta setzt allein der Cellist nochmals den Hoteldämpfer auf – diesmal einen Gummidämpfer mit dumpferem Klang. Zu den grell leuchtenden Oberstimmen bilden seine grundierenden Haltetöne einen geheimnisvoll-düsteren Kontrapunkt.
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