Bei der rund einstündigen "Séraphin-Symphonie" in einem Satz handelt es sich um den jüngsten Spross einer weitverzweigten Werkfamilie, deren sehr unterschiedliche Abkömmlinge in unregelmäßigen Abständen während der letzten zwanzig Jahre Gestalt annahmen. Wie das Ensemblestück "Jagden und Formen", das in seinem vorläufig letzten Zustand von 2008 einen ähnlichen Umfang hat, gehört diese Symphonie in Rihms Schaffen zu den Werken mit ausgeprägten "Wuchsformen", bei denen sich an einen Kern im Laufe der Jahre immer weitere Teile und neue Schichten anlagern. Eine entsprechend komplizierte Entstehungsgeschichte weisen sie auf. Diese Werke sind Produkte einer Poetik, die man eine "Poetik des Taktilen" nennen könnte. Ihr Ausgangspunkt ist immer das konkrete Klangobjekt, auf das der Komponist aus dem Moment heraus reagiert und das ihn in seiner Erfindung stimuliert.
Wer sich auf die Genese dieser Musik und ihre Genealogie einlässt, läuft Gefahr, sich in einem eigentlichen Labyrinth von ursprünglichen Setzungen, deren Verwandlung durch Kontrafaktur, Übermalung oder Inskription, von Wucherungen, An- und Ablagerungen, von Abflüssen und Neuzuflüssen usw. zu verlieren. Und man mag zweifeln, welche Bedeutung dies alles im Einzelnen für die Wahrnehmung des ästhetischen Gegenstandes haben soll, so wie wir ihm hörend begegnen. Die verschiedenen, zum Teil weit zurückreichenden Schichten treten uns nicht wie geologische Sedimente in (allerdings auch nur im Anschnitt sichtbar werdender) klarer historischer Schichtung entgegen und auch nicht auf andere Weise, deutlich voneinander abgesetzt wie in einem Worttext vielleicht durch Anführungsstriche und direkte oder indirekte Rede. Ältere Schichten sind nur für diejenigen als solche unmittelbar zu erkennen, die schon anderen Sprösslingen der Familie begegnet sind. Und dennoch ist dieses Wissen nicht ohne Nutzen: Zwar haben im Moment der klingenden Hervorbringung durch die Musiker hier und jetzt alle Elemente unterschiedlicher zeitlicher Abkunft denselben Status, da durchweg heute gespielt und damit in der Gegenwart klanglich hervorgebracht. Dennoch verschwinden sie nicht einfach in einer umfassenden Textur, in der das eine nicht mehr vom anderen unterscheidbar wäre. Sie interagieren vielmehr als Bestandteile und wirkende Elemente eines Tonsatzes. Im Unterschied zur Übermalung in der bildenden Kunst, wo die früheren Schichten nicht selten nur noch als Spuren sichtbar bleiben, sind sie in der Musik ästhetisch wirksame Bestandteile eines vielschichtigen Satzes. Eben weil ganze Schichten oder ausgedehnte Segmente aus früheren Stadien der Materialentwicklung aufgegriffen und in einen neuen Zusammenhang gebracht wurden, bildet sich zumindest teilweise ihre unterschiedliche Herkunft auch direkt in musikalischen Funktionen ab, so etwa in der für die "Séraphin-Symphonie" grundlegenden, auch in der räumlichen Disposition des Klanges sich manifestierenden Gegenüberstellung von kleinem und großem Klangkörper: Die ältere Schicht des Ensemblesatzes tritt hier in vielfältige Interaktion mit dem neugeschriebenen Orchesterpart.
Bei der "Séraphin-Symphonie" hat man es mit einem mehrfachen Palimpsest zu tun. Es ging aus einem zweifachen Überschreiben einer Grundschicht gleichen Umfangs hervor: dem 2007 für eine Tanztheaterproduktion von Jan Fabre entstandenen "Séraphin III – I am a mistake" für zwei Baritone, eine Sprecherin und ein Ensemble von 14 Spielern. Erstmals überschrieben wurde diese Musik ein Jahr später als "Séraphin-Concerto" für Ensemble. Rihm übertrug dafür im Wesentlichen die Partien für Stimme zwei vorher im Ensemble nicht vertretenen Hörnern, und zwar die textlosen gesungenen genauso wie am Ende des Stückes die gesprochenen Interpolationen des Textes von Jan Fabre, der dem Stück seinen Untertitel gab. Die musikalischen Funktionen der Vokalpartien blieben von dieser Transformation weitgehend unberührt, auch die schlussbildende Wirkung der Interpolationen als retardierendes Moment, nun in Form von Hornduos "senza tempo". Durch ein weiteres Überschreiben des "Séraphin-Concerto" mit einer Schicht für großbesetztes Orchester entstand 2011 die "Séraphin-Symphonie". Das "Concerto" ist der Ensemblepart der "Symphonie".
Auch die Grundschicht selbst war schon – ohne dass dies hier im Detail ausgebreitet werden könnte – Ergebnis eines teilweise mehrfachen Überschreibens gewesen, wobei die ältesten Schichten bis in die frühen 1990er Jahre zurückreichen. Angeregt von Antonin Artauds Ideen zu einem Theater der Grausamkeit, das auf wortsprachliche Mittel ganz verzichtet und allein auf andere Theatermittel baut, hatte Rihm damals unter dem Titel "Séraphin. Versuch eines Theaters für Stimmen/Instrumente/…" (1993–94) ein zweiteiliges, formal offenes Musiktheaterkonzept in Form von insgesamt elf Klangsätzen entworfen, in das als eigene Schicht verschiedentlich Ausschnitte aus der 1991/92 entstandenen "Étude pour Séraphin" für Blechbläser und Schlagzeug vom Tonband eingelassen waren. Dieses Material, dessen ausgesprochene Körperlichkeit auf die Herkunft vom Theater verweist, hat Rihm seither immer wieder aufgegriffen, wobei der Bezug auf das Seraphin-Theater Artauds im Titel der Werke durchweg kenntlich blieb.
"Séraphin III" – wie schon das im Jahr zuvor entstandene Ensemblestück "Séraphin-Sphäre", das nicht ganz die erste Hälfte von "Séraphin III" und entsprechend in übermalter Form auch der "Symphonie" bildet – bediente sich in spielerischer Anordnung einzelner mehr oder weniger bearbeiteter Klangsätze aus dem formal offenen Baukasten von "Séraphin". Rein vokale Abschnitte wurden dabei ersetzt durch Bruchstücke aus fremdem Material, und zwar aus "Über-Schrift" für zwei Klaviere (2003). Der ursprüngliche Wechsel von instrumental zu vokal in "Séraphin" wurde damit musikalisch transformiert in einen Wechsel von Farben und Klangcharakteristika. Zusammen mit neukomponierten Segmenten verband Rihm all dies zu einem feststehenden Ablauf. Das familienfremde Material, das seit "Séraphin-Sphäre" in die Musik einfloss, stammte aus dem 1994 mit "sphere, Kontrafaktur mit Klaviergegenkörper" für Klavier, Bläser und Schlagzeug begründeten Zweig der ebenfalls in die frühen 1990er Jahre zurückreichenden, aus dem Bläserstück "et nunc I" (1990) hervorgegangenen Familie. Diese, teilweise mit anderen Instrumentalfarben leicht übermalten Passagen für zwei Klaviere mit Material aus fremder Quelle blieben über alle Verwandlungen hinweg immer klar erkennbar.
Die neu komponierte Orchesterschicht der "Séraphin-Symphonie" tritt in vielfache Wechselwirkung mit dem Ensemble: sei es als bloße Grundierung für den Ensemblesatz, sei es als kontrapunktisches Gegenüber, etwa von linear versus diskontinuierlich oder als kontinuierliches Klangband unter zerklüfteter Klanglandschaft, sei es im Dialog mit dem Ensemble durch direktes Aufnehmen rhythmischer, gestischer, intervallischer, akkordischer oder farblicher Elemente oder sei es auch mittels Angleichung im Charakter. Gelegentlich, so erstmals am ursprünglichen Ende von "Séraphin-Sphäre", schweigt das Orchester auch für kurze Zeit ganz. Dann tritt die frühere Schicht direkt und ungeschminkt hervor.
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- Wolfgang Rihm, Séraphin Sinfonie für Ensemble und großes Orchester
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