Ein Schriftsteller macht den Hitlergruß, er weiß selbst nicht genau warum. Die Suche nach den Ursachen führt tief in die deutsche Seele. – Maxim Billers schmale Erzählung hat das Zeug, unser historisches Selbstverständnis gründlich durcheinanderzuwirbeln!
Rezension von Philipp Theisohn.
Ein in die Höhe gestreckter rechter Arm – das ist das Scharnier des neuen Romans von Maxim Biller. „Der falsche Gruß“ heißt er, und natürlich ist der falsche Gruß der Hitlergruß, den der angehende Schriftsteller Erck Dessauer in einer Berliner Bar vorexerziert.
Warum er das tut, bleibt auch ihm unklar: Ein Missverständnis ist es nicht, leicht angetrunken war er wohl. Aber es ist etwas anderes, was Dessauer dazu bewogen hat, seine „absurde Nazigymnastik“ ausgerechnet vor den Augen des jüdischen Intellektuellen Hans Ulrich Barsilay und dessen Entourage zu vollführen.
Wie und weshalb ein Mensch spontan auf solch eine Idee verfällt – der es natürlich ganz und gar an Spontaneität gebricht –, das ist das Sujet des Romans. Eines Romans, der nicht nur in all seiner Schmalheit, sondern vor allem in seiner analytischen Konzentration auf jene eine skandalöse, unerklärliche Begebenheit eigentlich eine Novelle zu nennen wäre. Eigentlich.
Welche Vergangenheit prägt den Schriftsteller Dessauer?
Biller führt seine Leser von zwei Seiten zum „falschen Gruß“. Zunächst betreibt er Sozialanamnese und lässt Dessauer schlaglichtartig seine Lebensgeschichte erzählen: Aufgewachsen in Leipzig als Enkel eines Wehrmachtsgrossvaters und Sohn eines Dozenten für Marxismus-Leninismus, der, von seiner Frau verlassen, sich später erhängen wird.
Bekanntschaft mit einem jungen palästinensischen Fotografen, der seine Familie beim Massaker von Sabra und Schatilla verloren hat und nach seiner Rückkehr bei einem israelischen Vergeltungsangriff im Libanon ebenfalls sein Leben lassen muss. In der Folge dann grosse Begeisterung für Edward Saids „Orientalismus“-Buch. In den letzten Tagen der DDR Gründung einer Schülergemeinschaft mit dem Namen „Junge Bibliothek“, die Workshops zu Carl Schmitt oder Louis-Ferdinand Céline abhält.
Nach der Wende dann Studium der Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität, beendet durch einen jähen Abbruch der bereits angemeldeten Magisterarbeit zum „Spätbolschewismus“.
Der jüdische Intellektuelle Barsilay wird Dessauers großes Vorbild
An dieser Stelle kreuzt sich Dessauers Leben mit dem des arrivierten Homme de lettres Hans Ulrich Barsilay zum ersten Mal. Barsilay ist es nämlich, der dem jungen Kandidaten den Ratschlag gibt, dass es manchmal „besonders mutig“ sei, „wenn man aufgibt“ – worauf dieser nolens volens seine Universitätskarriere beendet noch bevor sie begonnen hat und sich fortan als Gelegenheitsschreiber und Rezensent fürs Klassikradio verdingen muss.
Man sieht: Ein Leben, das als Entschuldigung für alles und nichts herhalten kann; ein Leben, in dem sich Zurücksetzungen, ja: Opferangebote finden lassen, so man unbedingt möchte – und Erck Dessauer möchte wohl.
Eine deutsche Sehnsucht nach dem Opferstatus
In diesem Wunsch, auch Opfer gewesen zu sein, auch Opfergeschichten erzählen zu können, im Phantasma, dass man nur dem Opfer auch Wahrheit zugesteht: hierin liegt der Schlüssel zum faschistischen Ausfall. Das Problem an der deutschen Sehnsucht nach dem Opferstatus liegt nämlich in der realen wie imaginären Anwesenheit von Juden.
Wer Maxim Billers Werk kennt und etwa 2018 seine Heidelberger Poetikvorlesungen zu „Literatur und Politik“ verfolgt hat, dem wird diese Formel nicht fremd sein: Der deutsche Antisemitismus der Gegenwart wurzelt in einer uneinholbaren Opfererfahrung namens Auschwitz. Und so, wie die sogenannte „Erinnerungskultur“ das Judentum auf diesen Ort verpflichtet und es über ihn definiert, so wächst zugleich das Verlangen, selbst diesen Ort besetzen zu können.
Die Schilderung eines Auschwitzbesuchs in Barsilays Memoir „Meine Leute“ weckt in Erck Dessauer folgerichtig den Erfahrungs- und Verwertungsneid:
Verdammt, dachte ich, als ich diese herrliche, böse Passage in Barsilays berühmtem Memoir jetzt schon das zweite Mal las, in der Hoffnung, dass mir das beim Schreiben meines eigenen Romans helfen würde, wie sollte mir etwas Ähnliches gelingen? Hier stimmte alles, nicht nur die Sprache und der Ton, sondern die ganze Situation, und dass Barsilay die große Erleuchtung ausgerechnet am dunkelsten, verbotensten Ort der Erde gekommen war, konnte ich nur neidisch anerkennen, denn so etwas Großes, Bewegendes, Literarisches war mir selbst in meinem ganzen Leben noch nicht passiert, und hätte er das nicht wirklich erlebt, müsste man denken, er hat eine ganz schön perfide Fantasie. Nein, verdammt, dachte ich immer wieder, so ehrlich und zynisch wie er werde ich als Autor nie sein […]. Und schon gar nicht habe ich den Lesern irgendwelche großen Lebensmetaphern oder sinnhaften Anekdoten anzubieten.
Die Bewunderung für Barsilay schlägt um in Verfolgungswahn
Der junge Deutsche erspürt ein Privileg, von dem er qua Geburt ausgeschlossen ist. Und kurz ist der Weg vom Privilegiendenken zum Verfolgungswahn. Kaum hat Dessauer seinen ersten Vertrag bei einem großen Verlag unterzeichnet, dem gleichen Verlag, in dem auch Barsilay publiziert, sieht er sich von diesem schon verfolgt. Seine geplante Biographie Naftali Frenkels, den Architekten des Gulags, wähnt er in Gefahr, verdankt er die Idee zu seinem Buch doch einer Novelle Barsilays, in der Naftali Frenkel einen kurzen Auftritt hat.
Diese Entdeckerschuld wird kurzerhand umgedreht und monumentalisiert: In einem imaginären Film, der in Dessauers Kopf unter dem Titel „Die große Intrige von Sacrow“ läuft, wird Barsilay die gemeinsame Verlegerin davon überzeugen, dass er – und nicht Dessauer – das Frenkel-Buch schreiben soll. Man wird nach Argumenten suchen, um den Vertrag annullieren zu können und sie in einer Skandalisierung von Dessauers unspektakulärer Biographie finden. Am Ende sieht sich der verhinderte Biographist sich in Benzin und Tränen getränkt mitsamt seinem Vertrag brennend „vor dem Gebäude meines ehemaligen zukünftigen Verlags.“
Auch auf dem privaten Schlachtfeld scheitert Dessauer
Es ist dieses Szenario, das Dessauers antisemitischen Instinkte bündelt und – wie alle antisemitischen Instinkte – finden diese ihr Fundament letztlich in einer sexualpsychologischen Kränkung. Dessauers Versuch, Barsilays Ex-Geliebte Valeria für sich zu gewinnen und somit an einem anderen Ort dessen Platz einzunehmen, scheitert. Nicht allein, dass Barsilay in Gesellschaft und Dessauers Gegenwart einräumt, mit der Frau noch zu schlafen, die gegen ihn einen Prozess wegen Persönlichkeitsverletzung führt. (Dieses interessante biographische Detail teilt die Figur mit ihrem Schöpfer Maxim Biller.) Barsilay legt in diesem Zusammenhang auch Dessauers misslungene Avance gegenüber Valeria offen – und bringt damit das Fass zum Überlaufen. Nach den ersten unterdrückten Zuckungen schnellt Dessauers rechter Arm nach oben.
Es bleibt nicht bei der Geschichte eines verwirrten Einzelnen
Damit, so scheint es, ist die Analyse dieses Patienten und seiner Nazigymnastik abgeschlossen. Doch nun folgt die zweite Annäherung an den „falschen Gruss“, denn es geht Biller nicht um den klinischen Zustand eines Irrläufers, sondern um die Psychopathologie einer ganzen Gesellschaft. Und so lässt er in einem nächsten Zug Dessauer das von ihm selbst erfundene Spiel auch noch gewinnen.
Was folgt aus dem Hitlergruss in der Bar? Zunächst einmal natürlich die unmittelbare Furcht vor dem sozialen Stigma, vor dem „Falschverstandenwerden“. Dessauers Film findet eine Fortsetzung: Sein Widersacher hat jetzt die ultimative Waffe gegen ihn in der Hand, nämlich den Vorwurf der Häresie, der nun auch von seinen Freunden gestützt werden kann:
Sie würden, wenn es sein müsste, notfalls auch vor Gericht bezeugen, dass ich mit dem Zeigen eines besonders impertinenten Symbols des Dritten Reichs gegen den großen Holocaustkult gesündigt hatte, dass ich ein moderner Heide war, ein Ketzer wider Auschwitz.
Doch nichts geschieht. Der falsche Gruß bleibt folgenlos, die gesellschaftliche Sprengkraft ein Phantasma. Doch wenn jemand partout glaubt, als „Ketzer wider Auschwitz“ zu gelten, dann hilft ihm gegen dieses Brandmal nur eins: Auschwitz und seine Zeugen selbst als Phantasma zu entlarven.
Mit einer simplen Internetrecherche gelingt es Dessauer, das Auschwitz-Erlebnis seines Widerparts als „eine üble Manipulation und Erfindung“ zu belegen, „um uns kleine deutsche Sünder noch kleiner zu machen als wir es schon waren“. Aus Barsilays Eingeständnis, dass jener epiphane Moment am Ort des Terrors nicht wirklich erlebt wurde, folgt umgehend die deutsche Ermächtigungsgeste: Ist erwiesen, dass Juden Auschwitz nicht authentifizieren können, dass sie mit diesem Ort gar nicht – wie gedacht – untrennbar verschmolzen sind: dann verlieren sie auch das Privileg, diese Authentizität zu ihrem Vorteil zu nutzen und dabei arme kleine deutsche Sünder um ihre wohlverdienten Karrieren zu bringen.
Dessauers Umdeutung wird zum feuilletonistischen Erfolg
Und so hat es seinen besonderen perfiden Sinn, wenn Dessauer in einem letzten Schritt mit seiner Frenkel-Biographie „Eine sibirische Karriere“ die Feuilletons stürmt, Themennächte im Kulturradio dominiert und überhaupt: beim deutschen Publikum wohlwollende Aufnahme mit der Darstellung eines Juden findet, dem sich „Täterschaft“ im großen Stile attestieren lässt. Und der sich dementsprechend wunderbar zur Umkehr der Opfererzählung fügt, in welcher der Nazigymnast sich für unschuldig erklärt, habe er mit seinem Hitlergruß doch „nur ein Zeichen gegen Barsilays eigene Nazimethoden setzen“ wollen.
Der schleichender Faschismus zeigt sich nicht in einfachen Symbolen
Billers Roman erzählt somit von einer Welt, die sich schleichend faschisiert – nicht, insofern sie auf einmal wieder „falsch“ zu grüßen beginnt, sondern insofern sie solche Grüße bereits längst einem Redestrom übereignet hat, der von Stereotypien, Verfolgungsphantasmen und Indifferenz beherrscht wird.
„Falsch“ ist der Hitlergruss Erck Dessauers dann auch nicht deswegen, weil er deplatziert oder verletzend wirkt oder strafbar ist; „falsch“ sind vielmehr die Erwartungen, die sich noch an solche Gesten und Zeichen knüpfen. Sie lösen keine Debatten aus, sie stellen nicht einmal mehr Fronten klar, sondern bleiben nur Bestandteile eines ewig anwährenden deutschen Monologs, der in diesem Text entsprechend mit Onanie analogisiert wird.
Einen Umschlag, eine Wende der Geschichte nach innen oder aussen gibt es nicht mehr, eine Novelle kann dieser Text nicht mehr sein. Biller erzählt, wie das für einen Großteil seines Werks gilt, aus dem Jenseits der deutschen Mentalität, in der sich nichts mehr ereignen wird, weil sie stets im Kreis läuft auf der Suche nach ihrer Unschuld. In Vor- und Rückblenden springt „der falsche Gruß“ ungebremst durch die Wirrungen eines falschen Bewusstseins, das an die Stelle von Auschwitz das Gedenken an Auschwitz setzt, einen phantasmatischen Ort, an dem niemand gewesen sein und an dem sich somit jeder nur versündigen kann.
Was kontrolliert das Gedenken an Auschwitz?
Die Kontrolle über die Versündigung am Gedenken – darum geht es hier. Maxim Biller legt diese Kontrolle in seinem neuen Roman einem deutschen Nazienkel in die Hand, um diesen mit der Frage „Wer missbrauchte dieses Menschheitsverbrechen für seine kleinen, egoistischen Zwecke?“, einen Kleinkrieg gegen sein Wahnbild des jüdischen Usurpators führen zu lassen.
Den kleinen egoistischen Zwecken stehen in Billers Kosmos freilich die großen egoistischen Zwecke, nämlich die nationalen gegenüber, die dieser Autor seit dreißig Jahren, spätestens seit dem 1998 erschienenen Harlem Holocaust immer wieder seziert. Hans Ulrich Barsilay, der jüdische Auschwitzreisenfälscher, handelt nicht klug, vielleicht auch schändlich. Doch füttert er den Deutschen lediglich, was der Egoismus ihrer „Vergangenheitsbewältigung“ ohnehin zu lesen und zu hören wünscht. Maxim Biller jedoch erfüllt keine Wünsche.
Gespräch Dmitrij Kapitelman über Anthologie „Wir schon wieder. 16 jüdische Erzählungen“
Im Band, den Dana von Suffrin gerade herausgegeben hat, stellt sie sich vor, wie ihre 16 Autorinnen und Autoren in einem Zimmer sitzen und streiten. Einer davon: Dmitrij Kapitelman
Buchkritik Maxim Biller - Sieben Versuche, zu lieben. Familiengeschichten
Maxim Biller erzählt von jüdischen Familien, die meist unmittelbar von den Umwälzungen des 20. Jahrhunderts betroffen waren. Eine besondere Rolle spielt der missglückte Prager Frühling, der auch Billers eigene Familie 1970 zur Flucht nach Westdeutschland zwang. Seine Geschichten sind scharfsinnig, ähneln sich allerdings leider auch sehr. Rezension von Pascal Fischer. Verlag Kiepenheuer & Witsch ISBN 978-3-462-05437-8 368 Seiten 22 Euro