Ein Katze hat sieben Leben – und Michael Köhlmeier erzählt sie alle, in seinem großen Roman über den Kater Matou. Von der Französischen Revolution bis zu Andy Warhol, der charismatische Kater war immer dabei.
Michael Köhlmeier, der telegene Märchenonkel mit der sonoren Sprechstimme, ist einer der letzten großen deutschsprachigen Geschichtenerzähler. Und groß, nein, unverschämt üppig sind auch die Romane dieses Autors. Unter fünfhundert Seiten macht er‘s selten. Diesmal sind es fast tausend geworden.
Ich beginne ein Unternehmen, welches beispiellos dasteht und bei dem ich keinen Nachahmer finden werde. Ich will dir einen Kater in seiner ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Kater werde ich selber sein. Ich allein, Matou – das ist mein Name.
Der Held des Romans – ist ein Kater
Das sagt der titelgebende Held von Köhlmeiers neuem Roman „Matou“. „Matou“ bedeutet im Französischen „männliche unkastrierte Katze“. Mein Wörterbuch ergänzt: „widerlicher Kerl“. Eine Warnung? Ich blättere das Buch durch. Es hat sechs Teile. Entsprechend den sechs vorigen Inkarnationen des Katers. Das siebte und letzte Leben bildet den Rahmen, die Erzählgegenwart, in der Matou seine anthropologischen Nachforschungen über die Conditio humana mit Tinte und Kralle bilanziert.
Wie kommt man diesen kolossalen Katerchroniken bei? Am besten mit einem Rezensionstagebuch. Ein Kritikertag pro Katzenleben.
Am Rande der französischen Revolution lernt Matou die menschliche Sprache
Tag eins. Matou ist schon auf der ersten Seite per Du und unterstellt mir Zweifel an der Authentizität seiner Erzählung. Was er erzählt? Geschichte in Geschichten. Er ist dabei, 1794, als in Frankreich die Köpfe rollen. Einer der Köpfe gehörte seinem Herrn, einem milde gewordenen Revolutionär und gewitzten Auftragsredenschreiber. Er heißt Camille Desmoulins. Dank ihm hat Matou Bekanntschaft gemacht mit Danton, Robespierre und anderen Größen der Zeit. Und dank ihm hat er, durch Nachahmung, die menschliche Sprache erworben.
Damit ich der Welt Auskunft geben kann über zweihundertdreißig Jahre Matou ... ein Tier als Zeitzeuge eurer Gesellschaft von der Französischen Revolution bis heute! Ein unschätzbarer Schatz!
Ein Angeber, der sich gewählt ausdrückt, notiere ich am zweiten Tag. Und weil er nicht nur den Anspruch hat, als einziger katzenhafter Protokollant die Zeitläufte zu dokumentieren, sondern en passant noch das Wesen des Menschen zu ergründen, muss er lesen und schreiben lernen.
Und das wird er, in seinem zweiten Katzenleben, in Berlin, bei niemand Geringerem als E.T.A. Hoffmann, dem ersten Menschen, mit dem er sich unterhält. Der Dichter wird ihn zum Vorbild für seinen metafiktionalen Kater-Murr-Roman nehmen. Zunächst aber hat Matou einen Floh im Ohr. Der singt romantische Gedichte und erzählt von seiner Flohwerdung in einem Märchen, das wiederum nicht ganz zufällig an Hoffmanns „Meister Floh“ erinnert.
Michael Köhlmeier schreibt so, wie man es aus Texten dieser Zeit kennt. Das dichte Anspielungsgeflecht, die Kombination verschiedener Textgattungen, der Sprachstil – das alles ist typisch romantisch. Auch die Liebe zur Musik. Als Eichendorff in einer Sitzung der Serapionsbrüder, an der Matou als stummer Gast teilnimmt, sein berühmtes Gedicht „Abschied“ rezitiert, begleitet ihn E.T.A. Hoffmann am Klavier. Und nach der Uraufführung der Oper „Undine“ schwärmt Matou:
Musik, Musik, Musik, sie unterscheidet sich vom profanen Geräusch eben dadurch, dass sich ihr Zauber nicht messen und nicht berechnen lässt, auch nicht mit dem feinsten Gerät.
Charismatiker, das sind Leute, die einen Zauber verbreiten. Auch sie lassen sich nicht berechnen. Das erfahre ich am dritten Tag. Saint-Just, ein Verbündeter von Robespierre, soll ein solcher Charismatiker gewesen sein. Aber auch Jesus. Und, natürlich, Matou.
Ein Kater als charismatischer Tyrann
Auf der Katzeninsel Hydra imitiert er unter Seinesgleichen das Machtstreben seines Studienobjekts Mensch, spielt ganz machiavellistisch „Animal Farm“.
Matou weiß um das Verführungspotenzial von Charismatikern und um die manipulative Kraft der Erzählung. Er tritt als Prophet auf, gründet einen Katzenstaat und wird Tyrann.
Michael Köhlmeier hat Charisma kürzlich mit Blick auf den österreichischen Bundeskanzler als verheerenden „Bullshit“ bezeichnet. Matou führt es vor.
Ein Charismatiker macht, dass den Leuten Scheiße nach Parfüm riecht und der eigene Untergang wie eine Himmelfahrt erscheint.
Tag vier. Matou wechselt das Lager. Als afrikanischer Leopardendämon rächt er die Opfer der Kongogräuel. An seiner Seite: ein verstümmeltes einheimisches Mädchen im Rollstuhl. Zur Rechtfertigung seines blutigen Rachefeldzugs zitiert er Nietzsche, Corneille, ein chinesisches Sprichwort – und die Bibel:
Ich war ein Leopard, und ich lebte in Afrika, und mein Volk lebte in Afrika, und ich erinnerte mich daran, was im ersten Buch der Makkabäer 2,67 stand: Schart alle um euch, die das Gesetz halten! Nehmt Rache für euer Volk! Ich sah bestätigt, dass gut und richtig war, was ich vorhatte, nämlich Rache zu üben und den bösen bärtigen König zu töten, der so viele meines Volkes getötet, der es nicht einmal für nötig gefunden hatte, unser Land zu besuchen.
Der Konjunktiv eröffnet die Welt der Möglichkeiten
Tag fünf. Der Roman ist eine einzige Achterbahnfahrt. Neuer Ort, neue Epoche. Prag im Ersten Weltkrieg. Matou ist wieder Hauskatze. Sein Frauchen ist von der Zivilisation gelangweilt und gebärdet sich zunehmend als Raubtier, um schließlich in feier Wildbahn erschossen zu werden. Im Zirkus fristet derweil ein sibirischer Königstiger ein tristes Dasein hinter Gittern. Ebenso Kafkas sprechender Affe. Anlass für Matou erneut über vermeintliche Trennlinien zwischen Mensch und Tier nachzudenken: das Gewissen, das Lachen, die bildhafte Sprache, das Als-ob. Gegen Metaphern wird Matou allergisch bleiben. Den Konjunktiv aber wird er schätzen lernen als zutiefst menschlichen Ausdruck des Möglichkeitssinns.
Der Indikativ ist der Nagel, der uns an die Unausweichlichkeit hämmert. Wer auch immer eure Sprache erfunden hat, den Konjunktiv hat er reuig dazugelegt, damit euch die Freiheit bleibt.
Bis zu dieser Erkenntnis beteuert Matou, dass die Ereignisse, die er schildert, wirklich und notwendig sind. Immer wieder wird der Strom seiner Erinnerung umgeleitet oder unterbrochen. Durch historische Anekdoten, philosophische Reflexionen und literarische Assoziationen. Durch Liedfragmente, eigene und fremde Gedichte, ein Pastiche, Zitate auf Deutsch, Französisch, Englisch, auch Latein, mal mit, mal ohne Quellenangabe. Durch Listen von Büchern, von Todesarten, von Wesensbestimmungen des Menschen. Durch Veränderungen im Schriftbild. Und durch Leseransprachen, meistens ironische.
Tag sechs. Matou jagt seine Lebensansichten durch ein mehrstöckiges Zerrspiegelkabinett. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ihm das als Konjunktiversatz dient. Es hätte alles doch anders sein können.
Die Wahrheit ist immer enttäuschend. Sie ist entweder schmutzig oder seicht. Entweder sie klärt dich über eine Lüge auf, dann wirst du sehen, dass sie langweiliger, stumpfer, eintöniger, trüber und unspektakulärer ist als ihr Gegenstück; oder sie sagt, was du ohnehin weißt, was auf der Hand liegt, was sich beweisen lässt und längst bewiesen ist, wovon sich nichts weitererzählen lässt, wenn sie einmal ausgesprochen ist. Oder – und das ist am bittersten – sie macht, dass du von einem geliebten Menschen enttäuscht bist. Letzten Endes – und nun zitiere ich Mister Andy Warhol – ist alle Wahrheit nicht mehr und nicht weniger als wirklich.
Das wird Matou in seinen beiden letzten Leben erfahren. In New York bei dem exzentrischen Pop-Art-Künstler und Katzenliebhaber Andy Warhol, der ihn von einer oberflächlichen Party zur nächsten schleppt. Und in Wien und Berlin, wo alle Fäden zusammenlaufen, bei Daniel, einem Philosophie- und Geschichtsstudenten, der Schriftsteller werden möchte.
Köhlmeier ist ein Meister des literarischen Arrangements
Tag sieben. Was ist das für ein Buch, das ich da gelesen habe? Ein Märchen? Ein historisches Epos? Eine philosophische Meditation? Ja, das alles. Es ist aber auch ein Bildungsroman – für den Kater wie für mich. Es geht um Liebe und Tod, das Gute und das Böse, aber vor und über allem: um Wahrheit und Dichtung. Michael Köhlmeier ist ein Meister des literarischen Arrangements von Erfundenem und Gefundenem. Wer „Matou“ gelesen hat, der hat eine gut ausgestattete Privatbibliothek zur europäischen Geistesgeschichte durchgearbeitet und obendrein ein Grundstudium in Erkenntnistheorie, Narratologie, Linguistik und Humanpsychologie absolviert.
Das mag trocken klingen, ist es aber ganz und gar nicht, was an der entfesselten Fabulierlust des Autors liegt. Köhlmeier ist ein stofflich wie stilistisch monumentales Werk gelungen, mit einem unvergesslichen Protagonisten: dem prahlerischen Schlaumeier, epischen Strippenzieher und selbsternannten „Homer der Katzen“ – Matou.