Das Porträt einer österreichischen Gemeinde
Eva Menasses „Dunkelblum“ liegt im Burgenland direkt an der ungarischen Grenze, also am äußersten Rand der Provinz, wo die westliche Welt bis zum Herbst 1989 am eisernen Vorhang endete.
Im Sommer 1989, als die Grenze durchlässig wird, ist das Romangeschehen auch angesiedelt, doch um einen Wende-Roman handelt es sich keineswegs. Im Gegenteil. Im fiktiven, aber doch sehr realen Dunkelblum soll alles so bleiben, wie es immer war.
Der erste Flüchtling, ein bärtiger Mann aus Sachsen, wird mit Tritten und Prügeln empfangen, bevor er von einem barmherzigen Dunkelblumer dann doch Asyl erhält. Fremde sind nicht erwünscht, denn hier ist man mit sich selbst beschäftigt, und wenn es um die Zukunft geht, streiten Bürger und Bürgermeister vor allem um die Wasserversorgung, als ob es sonst keine Probleme gäbe.
Über die Vergangenheit wird in Dunkelblum geschwiegen
Viel wichtiger ist jedoch all das, was unter einem jahrzehntelangen Schweigen begraben liegt – wie das auf einer Wiese am Stadtrand gefundene Skelett eines Toten aus der Nachkriegszeit. Es ist ein sprechendes Schweigen, das Landschaft und Leute gleichermaßen umfasst und das ja auch im dunklen Namen aufblüht, den Eva Menasse ihrer Ortschaft gegeben hat:
Rund um Dunkelblum übersteigt die Anzahl der Geheimnisse seit jeher die der aufgeklärten Fälle um ein Vielfaches. Es ist, als ob die Landschaft, die hier erst noch wie eine saftiggrün bestickte Samtborte aufgeschoppt und gekräuselt wurde, bevor sie abstürzt ins Flache, Gelbe und Endlose, sich grundsätzlich verwahrt gegen das Durchschautwerden. Und als ob das auch ihre Einwohner beträfe, die sich ähnlich disparat verhalten, alles beobachtend, nichts verstehend. (…) Die Köpfchen der Blumen drehen sich zwar emsig hin und her, und die Mauern spitzen ihre grauen, bröseligen Ohren, aber sie nehmen nur auf, sie geben nichts heraus.
So schweigsam wie die Blumen und die Mauern ist auch Resi Reschen, die Wirtin im Hotel Tüffer. Sie hört alles und weiß alles, da in der Wirtsstube alle Dunkelblumer zusammenfinden. Ihr Wissen versinkt dann aber in ihr wie in den unzugänglichen Schächten eines stillgelegten Bergwerks. Chefin im Hotel Tüffer ist sie, seit die jüdischen Besitzer fliehen mussten und nicht mehr zurückkehrten. Aber auch darüber wird nicht gesprochen.
Ausgerechnet hier mietet sich ein Herr aus Amerika ein, der sich zwar nicht als gebürtiger Dunkelblumer zu erkennen geben möchte, in dem die Alten aber bald den jüdischen Jungen vermuten, der am Ende des Krieges von zwei Frauen versteckt worden war. Jetzt will er seine Retterinnen wiederfinden.
Vielfältige Figuren bevölkern Menasses fiktive Gemeinde
Im fast vergessenen und überwucherten jüdischen Friedhof sind unterdessen Jugendliche aus Wien mit Restaurationsarbeiten beschäftigt, was den Dunkelblumern nicht gefällt, die an dieses Kapitel der Geschichte nur ungern erinnert werden wollen. Da ist vor allem der alte Ferbenz, der damals schon alle Fäden in der Hand hielt und immer noch von seiner Begegnung mit Adolf Hitler schwärmt. Dann gibt es da noch den inkompetenten, doch an seinen Aufgaben wachsenden Bürgermeister, einen rustikalen Großbauern mit Rauschebart und Wanderstock, einen Reisebürobetreiber als Hobbyhistoriker, einen Bio-Weinbauern und seine quicklebendige Tochter, die spurlos verschwindet, den Greißler, den Geflickten, eine tote Mutter, einen sterbenden Politiker und viele mehr.
Ein Stadtplan sorgt für Übersicht
Im Unterschied zum überschaubaren Familienroman, dessen Personal sich allenfalls genealogisch in die Vorgeschichte hinein verzweigt, ist die Bevölkerung einer Stadt immer zu groß, um in einen Roman zu passen. Auch bei kluger Beschränkung der handelnden Figuren bleibt das Geschehen unübersichtlich, und es dauert seine Zeit, bis die unterschiedlichen Personen Kontur gewinnen und Interesse erwecken. Die Beziehungen ordnen sich nicht wie in der Familie entlang der Generationen und der Zeiten, sondern bilden ein soziales Netz, das sich über die Geschichte legt. Familienromane behelfen sich oft damit, dass sie den Stammbaum abdrucken. In „Dunkelblum“ bekommt man stattdessen auf der Umschlaginnenseite einen Stadtplan, auf dem zu sehen ist, wer wo wohnt und wo einmal das Schloss stand, das 1945 abgebrannt ist.
Die Erzählperspektive wechselt zwischen den Figuren
Es gibt keine Zentralperspektive, sondern immer nur unterschiedliche Auffassungen, Sichtweisen, Lügen und Beschönigungen. Eva Menasse formuliert das im Roman so:
Das ist eben das Problem mit der Wahrheit. Die ganze Wahrheit wird, wie der Name schon sagt, von allen Beteiligten gemeinsam gewusst. Deshalb kriegt man sie nachher nie mehr richtig zusammen. Denn von jenen, die ein Stück von ihr besessen haben, sind dann immer gleich ein paar schon tot. Oder sie lügen. Oder sie haben ein schlechtes Gedächtnis.
Tatsächlich aber ist es mit der Wahrheit noch viel komplizierter, weil sie sich nicht einfach aus Einzelteilen zusammensetzen lässt wie ein Puzzlespiel, sondern sich im Lauf der Zeit selbst verändert. Wahrheit ist eine dynamische Kraft, die sich im Roman aus dem Arrangement der Autorin, aus ihrer Erzählstimme, die immer ein bisschen mehr weiß als ihre Figuren und aus einer leisen, angenehmen vermutlich recht österreichischen Süffisanz ergibt.
Diese ironische Erzählstimme treibt die Figuren vor sich her. Sie ist nie zufrieden mit dem, was die Einzelnen wissen, ist aber verständnisvoll genug um zu wissen, was für ein unzuverlässig Ding das Gedächtnis ist.
Man kann dem Roman vielleicht vorwerfen, dass er allzu großen erzählerischen Aufwand für einen geringen Erkenntnis-Ertrag betreibt. Dass Österreich Schwierigkeiten hat, sich seiner NS-Vergangenheit zu stellen, ist ja nun kein allzu großes Geheimnis. Eva Menasse ist aber eine geschickte und stilsichere Erzählerin, die zu unterhalten weiß und Spannung erzeugt, auch wenn ihre Tricks – eine Tote, eine Verschwundene, ein ausgegrabenes Skelett - durchschaubar sind.
„Dunkelblum“ ist kein Action- und kein Kriminalroman, bietet aber tiefe Einblicke in die labile Psyche der österreichischen Provinz. Und Provinzler gibt es ja bekanntlich überall.
Buchkritik Eva Menasse - Gedankenspiele über den Kompromiss
Die Schriftstellerin Eva Menasse plädiert dafür, dass es möglich sein muss, über alles zu sprechen und alles zu denken.
Rezension von Holger Heimann.
Droschl Verlag, 48 Seiten, 10 Euro
ISBN 978-3-990-59066-9