Ernst S. Steffen hat mehr als die Hälfte seines Lebens in Heimen und Gefängnissen verbracht. Er beginnt zu schreiben und findet mit Gedichten und Prosa literarische Anerkennung. Drei Jahre nach seiner Entlassung stirbt er bei einem Autounfall. Nun hat Anton Knittel, Leiter des Literaturhauses Heilbronn, seine vergriffenen Gedichte neu herausgegeben.
Ein gefährlicher „Gewohnheitsverbrecher“
Das Urteil aus dem Jahr 1962 ist überdeutlich: von einem gefährlichen „Gewohnheitsverbrecher“ ist die Rede.
Zu diesem Zeitpunkt ist der in Heilbronn geborene Ernst Steffen 26 Jahre alt und hat sich schon so einiges zu Schulden kommen lassen: Diebstahl, Bankeinbruch, bei einem Fluchtversuch aus dem Jugendarrest schlägt er einen Wärter nieder.
Gerade weil das Gericht in Steffen einen überdurchschnittlich begabten Menschen vor sich sieht, bekommt er fünf Jahre Haft in Bruchsal aufgebrummt. Wo die Schwerverbrecher sitzen, betont Anton Knittel.
Gewaltsame Kindheit im Nachkriegsdeutschland
Die traurige Karriere des späteren Autors erklärt sich Knittel, der Leiter des Heilbronner Literaturhauses, mit Misshandlungen in seiner Kindheit.
„Der Vater war Berufsmusiker, Alkoholiker und schwer gewalttätig. Der kam aus dem Krieg zurück und kannte seinen neunjährigen Jungen nur mehr oder weniger aus Fronturlauben.“
Das Geld sei in der Familie knapp gewesen. „Wenn man die Akten liest, die zum Glück noch im Heilbronner Stadtarchiv vorhanden sind, dann hat man immer das Gefühl, hier schreit eine jugendliche Seele nach Aufmerksamkeit, nach Zuwendung, nach Halt und Geborgenheit“, so Knittel.
Feuer und Flamme fürs Schreiben
In Bruchsal kommt Ernst Steffen mit dem damaligen Gerichtsassessor Rolf Zelter in Kontakt, der einen Schreibzirkel für Häftlinge gegründet hat. Und Steffen sei sofort Feuer und Flamme gewesen.
„Zum Beispiel brachte ich ihm an einem Samstag das Tagebuch von Max Frisch“, erinnert sich Zelter 1971 im Süddeutschen Rundfunk. „Und Montag hatte er es nicht nur schon gelesen, sondern schon acht oder zehn Seiten darüber geschrieben: eine ausgezeichnete Kritik über dieses Buch.“
Ernst S. Steffen veröffentlicht Gedichte
Nicht lange danach bringt der Häftling einen ersten Zettel mit einem Gedicht vorbei. Rolf Zelter, der Vater des Tübinger Schriftstellers Joachim Zelter, ist beeindruckt.
Er stattet Ernst Steffen mit einer Schreibmaschine aus und organisiert im Januar 1967 einen Abend mit Gedichten des Gefängnislyrikers im Stuttgarter Theater der Altstadt, dem Steffen selbst nicht beiwohnen darf.
Verwandt mit Siegfried Unseld
Ernst Steffens Entlassung kam im Dezember 1967 aufgrund eines Gnadengesuchs vorzeitig zustande. Wohl auch auf Betreiben Rolf Zelters, der bei einem Haftbesuch Steffens Mutter kennenlernt und dabei ganz nebenbei Erstaunliches erfährt:
„Die Mutter sagte mir, sie stamme aus einer guten Familie aus Ulm. Und sie hätte einen Vetter, der hätte sogar den Doktor. Ich habe aus reiner Höflichkeit gefragt, wie denn der Vetter heiße. Und dann sagte sie mir: Siegfried Unseld. Und da bin ich also zusammengezuckt und habe gefragt: Ja, Siegfried Unseld vom Suhrkamp Verlag?“
Hilde Domin würdigt seine Lyrik
Die Verwandtschaftsbeziehung, auf die Unseld selbst nicht begeistert reagiert, versteckt sich hinter Steffens zweitem Vornamen Siegfried, der heute jedoch meist nur abgekürzt wiedergegeben wird. 1969 erscheint im Luchterhand-Verlag Ernst Steffens erster Gedichtband „Lebenslänglich auf Raten“, der viel positive Resonanz erfährt.
Günter Grass, Martin Walser werden aufmerksam, Hilde Domin würdigt seine Lyrik als ein „Schreiben aus Schmerz geboren“. Es sind existentielle Fragen, die er in seinen Gedichten formuliert.
Suche nach Standpunkt in der Gesellschaft
„Man merkt: Er sucht Halt in der Gesellschaft. Es geht um seinen Standpunkt in der Gesellschaft“, sagt der Heilbronner Literaturhauschef Anton Knittel.
Steffens Fragen gingen über Gefangenenlyrik hinaus: „Wo stehe ich eigentlich? Was bin ich als Individuum? Wo kann ich Anschluss finden? Was bin ich wert?“
Frei und doch Gefangener
Es ist ein unschätzbarer Verdienst, dass Anton Knittel mit der Neuausgabe auch einiger bislang unveröffentlichter Gedichte wieder an den Autor erinnert, der bei einem Autounfall 1970 bei Baden-Baden ums Leben kommt und in Vergessenheit gerät.
„Ich will frei sein“, schreibt Steffen in einem Brief an seinen Verwandten Unseld, „das darf mich das Leben kosten“. Sein größter Wunsch „anzukommen“ gelingt ihm nicht.
Auch nicht in der Literatur. Er leidet darunter, dass er ein „Schreibender“ sein will und doch nur als „Exzuchthäusler“ gesehen wird.
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