Am 16. Oktober 1923 schloss Walt Disney den Vertrag für seine erste Trickfilmreihe ab und legte damit den Grundstein für einen der größten Unterhaltungskonzerne der Welt. Seinen Konkurrenten war Disney immer eine Nasenlänge voraus: Er erkannte und nutzte die technischen Entwicklungen seiner Zeit. Was bleibt bei Disney vom Erfindungsgeist des Firmengründers?
Ein Mädchen im Cartoon-Land rettet Disney vor dem Aus
Es ist nicht die einfachste Ausgangslage für Walt Disney. Das erste Animationsstudio, das der 21-Jährige in seiner Heimatstadt Kansas gegründet hatte, ist zahlungsunfähig. Mit seinem letzten Budget produziert er einen Kurzfilm namens „Alice’s Wonderland“, sehr frei nach den Abenteuern von Lewis Carroll.
Disney schafft etwas bisher Ungesehenes: Er verbindet Aufnahmen einer realen Kinderdarstellerin mit Cartoon-Charakteren. Sein Studio kann Disney zwar nicht halten, aber mit dem Film im Gepäck macht er sich auf den Weg nach Hollywood, um dort nach neuen Chancen und Geldgebern zu suchen.
SWR2 Filmkritiker Rüdiger Suchsland im Gespräch über hundert Jahre Disney
Und er wird fündig: Am 16. Oktober 1923 unterzeichnet Disney einen Produktionsvertrag bei Margret Winkler, einer der einflussreichsten Cartoon-Produzentinnen der Stummfilm-Ära. Fünf Jahre arbeitet Disney an den „Alice Comedies“. Es ist der Start einer der großen amerikanischen Firmengeschichten.
Filmklassiker aus dem Hause Disney
Disney erkennt den Umbruch in Hollywood
Was Walt Disney anderen Cartoon-Produzenten voraus hat, ist sein Gespür für die Innovationen seines Mediums, die Ende der 1920er-Jahre die komplette Filmindustrie schlagartig und drastisch verändern.
Nachdem Warner Brothers 1927 mit „The Jazz Singer” den ersten Tonfilm ins Kino bringt, trumpht Disney ein Jahr später mit dem ersten Ton-Zeichentrick auf und bringt gleichzeitig eine unvergessliche Figur auf die Leinwand: In „Steamboat Willie“ sieht und hört das Publikum am 18. November 1928 zum ersten Mal das neue Studio-Maskottchen Micky Maus.
Micky wird zum Riesenerfolg und Disney – ganz Geschäftsmann – nutzt die Popularität in bisher unbekanntem Maße für die Lizensierung von Comic Strips und Merchandising: Puppen, Uhren, Lunchboxen, Spielzeug … Micky Maus ist überall und spült Geld in die Kassen der Disney-Studios.
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Künstlerische Anerkennung und „Disneys Verrücktheit“
1932 erhält Disney das Angebot, als erstes Cartoon-Studio im neuartigen Technicolor-Verfahren zu produzieren. Disney akzeptiert und sichert sich die Exklusivrechte für die ersten zwei Jahre. Mit „Flowers and Trees“ produziert das Studio den ersten Technicolor-Cartoon und wird für den Film prompt mit seinem ersten Oscar ausgezeichnet. Der ersten von vielen für Disney.
Mit den farbigen Trickfilmen trainiert der Studioleiter seine Animatoren auch für das nächste Riesenprojekt. Disney will den ersten Zeichentrickfilm in Spielfilmlänge produzieren: „Schneewittchen und die sieben Zwerge“.
In Hollywood wird hinter vorgehaltener Hand von „Disneys Verrücktheit“ gesprochen. Niemand kann sich vorstellen, dass ein Zeichentrickfilm eine Dramaturgie von über 80 Minuten aushält. Doch einmal mehr gelingt es Disney, sein Genre neu zu erfinden. „Schneewittchen“ wird 1937 zum Welterfolg und gilt bis heute als einer seiner besten Filmklassiker.
Mit Amerika ziehen Disneys Figuren in den Krieg
Disneys abendfüllende Filme erfreuen sich großer Beliebtheit. Während Nazi-Deutschland in Europa Angst und Schrecken verbreitet, produziert Disney in Hollywood fleißig weiter: Es folgen „Pinocchio“, „Fantasia“, „Dumbo“ und „Bambi“. Mit dem Kriegseintritt der USA produziert auch Disney Filme mit klarer politischer Position. Donald Duck, Goofy und Pluto ziehen in den Krieg.
Nach dem Krieg fällt es den Disney Studios schwer, sich wirtschaftlich zu erholen. Die Wende bringt erneut ein Film nach Märchenvorlage: Mit „Cinderella“ gelingt es Disney 1951 beeindruckend, den Erfolg seines ersten Spielfilms zu wiederholen.
Wenig später dringt Disney wieder einmal in ein neues Medium vor: Ab 1954 tritt der Firmengründer im Fernsehen als Moderator auf. Auf der heimischen Mattscheibe zementiert Disney seinen Nachruhm als Amerikas erfinderischer und gutmütiger Märchenonkel und rührt gleichzeitig die Werbetrommel für sein neuestes Großprojekt: Disneyland. Disneys Filme sind nun in der realen Welt angekommen.
Der große Visionär verschwindet
Der starke Raucher Walt Disney stirbt am 15. Dezember 1966 mit 65 Jahren an Lungenkrebs. Trotz seiner schweren Krankheit arbeitet er bis zuletzt mit Feuereifer an neuen Projekten. Vor allem bei seinem letzten Zeichentrickfilm „Das Dschungelbuch“ ist Disney stark involviert.
Mit dem Tod seines Gründers stürzen die Disney Studios in eine Zeit der Kopflosigkeit. Disney verfällt in eine Schockstarre, eine teils museale Verehrung des großen Firmenerbes. Die 1970er-Jahre sind bei Disney geprägt von der Verwaltung der früheren Erfolge.
Die kleine Meerjungfrau bringt den Neuanfang
Mitte der 1980er-Jahre verdient Disney am meisten mit den Rechten an seinen Klassikern, gerade an der neuen Auswertung durch die Videokassette, und an neuen Realfilmen. Nach dem finanziellen Flop des Fantasy-Films „Taran und der Zauberkessel“ steht die Zeichentricksparte sogar komplett auf der Kippe: zu teuer, zu arbeitsintensiv, zu wenig zeitgemäß.
Disney-Remake unten im Meer „Arielle, die Meerjungfrau“: Story altbekannt, Halle Bailey fulminant
Ein regelrechter Aufschrei ging durchs Internet, als Disney im Juli 2019 die Besetzung der Hauptrolle für das Realfilm-Remake von „Arielle, die Meerjungfrau“ bekanntgab. Der Stein des Anstoßes: Halle Bailey ist Schwarz. Disney opfere eine seiner beliebtesten Figuren dem „woken Zeitgeist“, lautete der Vorwurf. Entgegen aller Aufregung bleibt der Film in seinen Aktualisierungsversuchen dann doch ziemlich brav.
Die Wende bringt erneut ein Filmmärchen. 1989 veröffentlicht Disney mit „Arielle, die Meerjungfrau“ erstmals seit den 1950er-Jahren einen Märchenfilm und landet einen Riesenerfolg. Vor allem die Musik aus der Feder von Alan Menken und Howard Ashman trifft den Zeitgeist und überzeugt Kritiker und Publikum.
„Arielle“ ist der Start der sogenannten Disney-Renaissance der 1990er-Jahre. Der Film gibt den Auftakt für Filme wie „Die Schöne und das Biest“, „Aladdin“, „Der König der Löwen“ oder „Hercules“. Disneys neue Held*innen sind wieder omnipräsent: in TV-Serien, Comics und Videospielen.
Quo vadis, Disney?
Zum hundertsten Geburtstag steht der Riesenkonzern erneut am Scheideweg. In den vergangenen Jahren scheint Disney mehr daran interessiert, sein Erbe zu verwalten und seine Marken zu erweitern, als wirklich neue Geschichten zu erzählen. Damit befindet sich Disney voll im Zeitgeist Hollywoods: möglichst viel Nostalgie, wenig Experimente.
Seit Mitte der 2010er-Jahre feiert Disney an den Kinokassen gute Zahlen mit den Realverfilmungen seiner großen Klassiker. Doch die Filme werden aufgrund ihrer mangelnden Originalität von den Kritikern zerrissen. Daneben investiert der Konzern in erfolgreiche, bestehende Marken, allen voran Marvel Comics und Star Wars.
100 Jahre Disney Der Disney-Konzern – Vom weißen Entenhausen zur Schwarzen Arielle
Es begann mit Micky Maus. Heute ist Disney ein politischer Faktor in den USA. Einst Inbegriff des weißen Familienideals, ist der Konzern längst divers geworden, manche sagen: woke. Wirklich?
Ob dieses Konzept den Konzern noch lange an der Spitze hält, ist fraglich. Auch, weil im gespaltenen Amerika nach Donald Trump jeder Versuch von Disney, sein Erbe zu diversifizieren, als „woke“ verschrien wird. Es ist ein Kurs, der dem Konzern gefährlich werden könnte: Erst kürzlich verkündete Disney-Konzernchef Bob Iger drastische Einsparungen bei Disneys Streamingdienst Disney Plus, um das Angebot profitabel zu machen.
Zu Disneys Geburtstag kann man dem Konzern nur eines wünschen: Mehr Mut zu neuen Ideen, neuen Inhalten und mehr Pioniergeist, wie ihn einst Walt Disney hatte.
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