In den Kitas in Baden-Württemberg fehlt es massiv an Personal und Plätzen - in mehreren Städten werden Öffnungszeiten verkürzt. Nun kommt ein neuer, brisanter Lösungsvorschlag.
Die Kommunen setzen angesichts des dramatischen Personalmangels in den Kitas auf einen Befreiungsschlag: Der Städtetag verlangt vom Land Baden-Württemberg eine Öffnungsklausel im Landesgesetz, damit Kita-Träger zum Beispiel verstärkt Hilfskräfte anstelle von Erzieherinnen und Erziehern einsetzen können. Einzelheiten zu dem Konzept wurden am Donnerstag in Stuttgart vorgestellt.
Städtetag dringt auf "mehr Beinfreiheit" vor Ort
Der Städtetag will den großen Mangel an Personal und Plätzen in den Kindertagesstätten nicht länger hinnehmen. Geschäftsführer Ralf Broß sagte dem SWR, es gebe in vielen Kommunen kreative Ideen, um mehr Personal zu gewinnen und besser einsetzen zu können. "Dazu brauchen wir mehr Beinfreiheit statt der engen Vorgaben etwa beim Fachkräftekatalog. Wenn die Städte die nicht erfüllen müssten, würden sich ganz neue Perspektiven öffnen."
Eine Lösung könnten aus seiner Sicht multiprofessionelle Teams sein. Hierbei könnten zum Beispiel Hauswirtschaftskräfte, Bufdis oder auch Eltern und Großeltern die Erzieherinnen und Erzieher entlasten. Der Städtetag pocht darauf, dass solche Hilfen dann auch auf den Personalschlüssel angerechnet werden. Bisher gelten hier starre Vorgaben, wonach in der Regel eigentlich zwei Erzieherinnen anwesend sein müssen. "Wir wollen Blockaden auflösen, indem vor Ort neue Erfahrungen gemacht und Diskussionen angestoßen werden", so Broß weiter.
Renate Schmetz ist Sozialbürgermeisterin in Ludwigsburg. Im Gespräch mit SWR Aktuell erklärt sie, dass Quereinsteiger in Kitas den Personalmangel zwar nicht lösen, aber dennoch für Entlastung sorgen könnten:
Benjamin Lachat, Sozialdezernent beim Städtetag, will mehr Flexibilisierung, betont aber auch: "Das Wohl, der Schutz und die Sicherheit der Kinder stehen weiterhin ganz oben, hier wird es keinerlei Abstriche geben." Für ihn ist das Neue an dem Vorschlag: "Alle Beteiligten vor Ort - Eltern, Personal, Kommune - setzen sich an einen Tisch und finden ihre individuelle Lösung, die für alle funktioniert", so Lachat. Das könnten neue Öffnungszeiten, andere Betreuungsangebote oder andere Gruppenstrukturen sein, sagte er weiter. "Auch beim Personaleinsatz können durch einen passgenauen Mix an qualifizierten Fachkräften und engagierten Zusatzkräften neue Wege gegangen werden."
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Staatssekretär warnt vor flächendeckender Senkung von Kita-Standards
Die Landesregierung will den Vorschlag prüfen. Der zuständige Staatssekretär Volker Schebesta (CDU) sagte dem SWR, er könne sich eine "Experimentierklausel" im Gesetz grundsätzlich vorstellen. "Dabei muss es darum gehen, an einzelnen Standorten ausprobieren zu können und auf neue Lösungsansätze zu kommen." Schebesta warnte aber davor, auf breiter Ebene Abstriche an der Qualität der Betreuung zu machen. "Bei den Erzieherinnen und Erziehern darf es nicht so ankommen, dass wir flächendeckend Standards absenken und den Mindestpersonalschlüssel reduzieren. Weil das bei ihnen zum Ergebnis haben kann, dass sie sagen, bei dieser höheren Belastung verlassen wir das Berufsfeld - und dann hätten wir nichts gewonnen", so der CDU-Politiker.
Schebesta sagte aber auch: "Wir trauen den Städten und Gemeinden natürlich zu, dass sie gute Lösungen vor Ort finden, die auch von allen getragen werden." Bei dem Experiment sei nun die Frage, welche Kriterien man anlege und was an innovativen Personalkonzepten auf den Tisch komme. Der CDU-Politiker kann sich nach eigenen Worten vorstellen, dass man eine bestimmte Zahl von Kommunen festlegt, in denen ein neues Konzept ausprobiert wird. Das wäre angelehnt an den Schulversuch zum neunjährigen Gymnasium, bei dem 44 Modellschulen vorgesehen sind. Eine weitere Option sei, Bedingungen zu formulieren, die erfüllt sein müssen, damit die Kommunen von den Erleichterungen Gebrauch machen können. "Es muss darum gehen, dass an einzelnen Standorten neue Wege ausprobiert werden und wir daraus Konsequenzen ziehen können für die Fläche", so Schebesta.
Grüner Rückenwind für Kommunen
Grünen-Landeschefin Lena Schwelling unterstützt den Vorstoß des Städtetags. "Die Verantwortlichen vor Ort wissen am besten, wo der Schuh drückt, und das kann je nach örtlichen Gegebenheiten ganz unterschiedlich sein", sagte sie dem SWR. Schwelling ist deshalb dafür, dass die Kommunen größere Freiheiten bekommen. "Wir müssen stärker auf die Eigenverantwortung der Kommunen setzen. Wenn der gesetzliche Rahmen den Kommunen mehr Handlungsspielräume eröffnet, können lokale Potenziale ausgeschöpft und passgenaue Lösungsansätze entwickelt werden, die den Bedarfen vor Ort Rechnung tragen."
Natürlich müsse die Qualitätssicherung weiter oberste Priorität haben. Wenn es aber innerhalb dieses Rahmens vielfältige Konzepte gebe, wie verlässliche Betreuung und gute frühkindliche Bildung vor Ort umgesetzt werden, dann profitierten davon Träger, Erzieherinnen und Erzieher sowie Eltern im gleichen Maße.
Die Gewerkschaft ver.di übt im Gegensatz dazu heftige Kritik an den Vorschlägen. Nur weil Rechtsansprüche nicht überall gewährleistet werden können, dürfe es keine Abstriche bei frühkindlicher Bildung geben. Laut einer Mitteilung befürchtet ver.di, "dass frühkindliche Bildung nur noch in privilegierten Einrichtungen stattfinden kann und der Orientierungsplan dann nur noch auf dem Papier gelten würde".
In Baden-Württemberg fehlen zehntausende Kita-Plätze
Trotz massiven Ausbaus in den vergangenen Jahren kann Baden-Württemberg den Bedarf an Kitaplätzen bei weitem nicht decken und unterläuft damit in vielen Teilen des Landes den Rechtsanspruch der Eltern auf eine Betreuung. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung hatte ergeben, dass in diesem Jahr 57.600 Kitaplätze fehlen. Um diese Plätze zu schaffen, müssten die Kommunen als Kita-Träger zusätzlich 16.800 Fachkräfte einstellen.
Hinzu kommt der Personalmangel in den bestehenden Kitas. Zuletzt hatte die Stadt Tübingen beschlossen, die Betreuungszeiten der städtischen Kitas ab September zu kürzen. In Radolfzell am Bodensee sollen Eltern übergangsweise zusätzliche Betreuungsstunden übernehmen, um den Mangel an Erzieherinnen und Erziehern in den städtischen Kindertageseinrichtungen aufzufangen.
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