An Kitas in Baden-Württemberg fehlt Personal und Plätze, manche schließen früher. Nun holen holen Eltern ihre Kinder aus Protest zu spät ab - einige Städte führen Sanktionen ein.
An den Kindertagesstätten in Baden-Württemberg fehlt es an Erzieherinnen und Erziehern. Deshalb verkürzen immer mehr Kommunen die Öffnungszeiten. Das stellt Familien vor Herausforderungen. Eltern in Schorndorf gingen aus Protest im Januar sogar so weit, dass sie ihre Kinder bewusst nicht rechtzeitig abholten - woraufhin die Stadt mögliche Sanktionen einführte.
Kürzere Öffnungszeiten könnten zur Regel werden
Auch wenn es sich bei etwa zehn Fällen im Vergleich zu 1.750 Kitaplätzen in Schorndorf nur um Einzelfälle handelt, so verdeutlicht dieser "Abholstreik" doch, wie sehr die Situation manche Familien belastet. Dabei könnten kürzere Öffnungszeiten bald von der Ausnahme zur Regel werden. Zumindest der Städtetag kann sich das flächendeckend für Baden-Württemberg vorstellen. Auch Wissenschaftler, die im Bereich der frühkindlichen Bildung forschen, halten diese Maßnahme für ein probates Mittel gegen den Fachkräftemangel.
Thorsten Englert, Schorndorfs Erster Bürgermeister, würde Sanktionen gerne vermeiden. Schon seit langem versuche man alles, um zusätzliches Personal zu gewinnen. Doch dieses sei schlichtweg nicht vorhanden. "Es ist kein Geld-Thema, es ist ein Mangel", sagt er.
Reduzierung als Folge des Personalmangels
Seiner Gemeinde sei daher im Dezember 2022 nichts anderes übrig geblieben, als die Öffnungszeiten der städtischen Kitas für das neue Kindergartenjahr ab dem 1. September 2023 bei Neuverträgen auf maximal 40 Stunden zu begrenzen. Aufgrund des akuten Personalmangels sei im Dezember aber auch entschieden worden, bereits im Januar manche Betreuungszeiten zu kürzen. "Und dann haben die Telefone zwischen den Jahren geglüht", sagt Englert.
Für solch drastische Formen des Protestes hat auch der Vorsitzende des Schorndorfer Gesamtelternbeirats, Hasan Avci, wenig Verständnis. "Aus meiner persönlichen Sicht trifft es da die Falschen. Da sind die Kinder und Erzieher die Leidtragenden. Die können dafür gar nichts", sagt er. Es sei wichtig, das Thema anzusprechen, doch die aktuelle Situation müsse im Dialog mit der Kommunalpolitik gelöst werden.
Gesamtelternbeirat kritisiert Kommunikation der Stadt
Der Elternvertreter sieht auch Fehler bei der Stadt. So habe die Kommunikation vonseiten der Stadtverwaltung nicht gepasst. Viele Eltern seien vor vollendete Tatsachen gestellt worden, so der Vorwurf von Franziska Englert, Mitglied im Gesamtelternbeirat. "Viele haben es tatsächlich aus der Zeitung erfahren. Es gab vorab keinerlei Kommunikation mit den betroffenen Eltern. Und auch jetzt, wo der Beschluss steht, wissen die Eltern nicht, wie es weitergeht", sagt Englert, die mit dem gleichnamigen Ersten Bürgermeister nicht verwandt ist.
Schorndorf reagiert: Ausschluss von Kindern nun möglich
Der OB hat zwar Verständnis für die Mehrheit der Eltern, da es sich bei dem Abholprotest nur um einige, wenige gehandelt habe. Dennoch brauche man ein "kommunales Instrument" für solche Fälle, so Englert. Daher passte der Gemeinderat der Stadt Schorndorf die Kindergarten-Satzung im Februar an. Nach drei Abmahnungen innerhalb eines Kita-Jahres können Kinder nun theoretisch bei einem vierten Verstoß ausgeschlossen werden.
Verspätungsgebühr in Luwigsburger Kitas
Eine etwas anderes Instrument gegen das verspätete Abholen der Kinder hat die Stadt Ludwigsburg eingeführt. Ab April 2023 kann die sogenannte Verspätungsgebühr erhoben werden. Bei wiederholten Verstößen können pro halbe Stunde 30 Euro in Rechnung gestellt werden. Allerdings geht die Stadtverwaltung davon aus, "dass es stadtweit nur eine geringe Zahl von Fällen geben wird, bei denen die Stadt tatsächlich eine Gebühr erhebt", teilt die städtische Presestelle mit.
Kitaverband hat Verständnis für Kommunen
Unterstützung erhalten die Kommunen vom Deutschen Kitaverband in Baden-Württemberg. Landesgeschäftsführer Marko Kaldewey kennt Sanktionsmöglichkeiten von den freien Trägern. Da sei es nicht unüblich, dass man sich gewisse Strafmaßnahmen vorbehalte - so beispielsweise auch Gebühren für das zu späte Abholen. "Es ist auch ein Zeichen des Respekts gegenüber den Erzieherinnen, die Kinder pünktlich abzuholen, sagt er.
Erzieher fühlen sich machtlos und ausgeliefert
So weit ist es in der Schorndorfer Kita Stöhrerweg noch nicht gekommen. Auch der Abholstreik traf die Einrichtung nicht. Zwar habe es Beschwerden wegen der verkürzten Öffnungszeiten gegeben. Diese seien aber immer in angemessener Form geäußert worden, erzählt Leiterin Teresa Idler. Es helfe, den Eltern die Hintergründe und rechtlichen Rahmenbedingungen zu erklären.
Idler hat Verständnis für die Eltern, die durch verkürzte Öffnungszeiten vor große Herausforderungen gestellt werden. Doch müsse sie auch an ihr Team denken. "Wir bekommen dann den Frust direkt ab und haben mit den Konsequenzen zu leben", sagt sie. "Das schafft Unzufriedenheit und sorgt für Frust bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Letztlich sind wir der Situation machtlos ausgeliefert." Grundsätzlich sei der Umgang mit den Eltern aber sehr gut. Oft werde gegenseitig viel Rücksicht genommen, so die Kita-Leiterin.
Kretschmann verweist auf Verantwortung der Kommunen
Die Landesregierung äußert sich zum Abholstreik in Schorndorf derzeit nicht. Die Betreuung in Kindertagesstätten sei Aufgabe der Kommunen, erklärte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) am Dienstag auf SWR-Nachfrage. Schließlich entschieden diese über die Öffnungszeiten und das Personal. "Das ist deren Aufgabe, nicht meine", so Kretschmann.
Ministerpräsident sieht "dramatische" Lage für Eltern
Die Zahl der Kita-Plätze sei in den vergangenen zehn Jahren in Baden-Württemberg um 78 Prozent erhöht worden. Auch die Bezahlung sei erheblich verbessert worden, erklärte der Ministerpräsident. Das Land tue, was es könne. Allerdings: "Ich kann mir die Erzieherinnen genauso wenig herbei zaubern wie irgend jemand anderes."
Der Regierungschef forderte die Kommunen auf, das Problem ernst zu nehmen. Denn auch er erkennt an: "Natürlich ist das dramatisch für Eltern, wenn das eingeschränkt wird."
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Kultusministerium verweist auf Maßnahmenkatalog
Das Kultusministerium teilte auf SWR-Anfrage mit, man sei sich "der angespannten Lage in den Kitas sehr bewusst" - und verwies auf einen Maßnahmenkatalog. Dieser sieht unter anderem vor, den Beruf attraktiver zu machen, zusätzliches Personal zu gewinnen und Konzepte zu entwickeln, wie Erzieherinnen und Erzieher länger im Job gehalten werden können.
Das streik-ähnliche Verhalten von Eltern, die ihre Kinder nicht abholen, wollte die Pressestelle des Ministeriums nicht weiter kommentieren. Der Unmut der Eltern sei verständlich. Doch bedürfe der akute Personalmangel der Anstrengung aller: Eltern, Erzieher und Erzieherinnen sowie der Träger.
Kultusministerium: Kein Kommentar zu verkürzten Öffnungszeiten
Auf die verkürzten Öffnungszeiten von Kitas, wie beispielsweise in Tübingen, geht das Kultusministerium mit Verweis auf die Trägerhoheit ebenfalls nicht direkt ein. Staatssekretär Volker Schebesta (CDU) teilte mit, bei den Maßnahmen werde versucht, die Balance zwischen Belastung der Erzieherinnen und Erzieher sowie dem Betreuungsbedarf der Eltern zu halten: "Denn es hilft uns nicht, wenn wir das belastete Personal zugunsten längerer Öffnungszeiten strapazieren und sie dadurch das Berufsfeld verlassen."
Ganz konkret haben Kitas und Träger laut Ministerium die Möglichkeit, Zusatzkräfte - also Menschen ohne pädagogische Ausbildung - zu beschäftigen, um auf Personalengpässe zu reagieren. Diese dürften aber nicht auf den Mindestpersonalschlüssel angerechnet werden. Sie zählten nicht zum pädagogischen Personal.
Tübinges OB Palmer bittet um Zusatzkräfte
Tübingens Oberbürgermister Boris Palmer (Grüne, Mitgliedschaft ruht derzeit) hatte sich zu diesem Thema jüngst mit einem offenen Brief an Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) gewandt. Darin bat er darum, Zusatzkräfte wieder effizienter in Kitas einsetzen zu dürfen. Aktuell braucht es zwei Fachkräfte, damit eine Zusatzkraft dauerhaft mitarbeiten darf.
Während der Corona-Pandemie hatte es bereits eine Ausnahmeregelung gegeben, die das Eins-zu-Eins-Verhältnis ermöglichte. Und genau darum bat Palmer nun auch. Ob Schopper das in Betracht zieht, beantwortete das Kultusministerium auf SWR-Nachfrage nicht. Das Ministerium verwies stattdessen erneut auf den Maßnahmenkatalog.
Darin hat das Land auch Übergangsregelungen für das Kindergartenjahr 2022/2023 erlassen, die seit dem 1. September gelten. Konkret bedeutet das: Der Mindestpersonalschlüssel darf um bis zu 20 Prozent unterschritten werden, allerdings muss dabei eine Fachkraft durch zwei Zusatzkräfte ersetzt werden. Für acht Wochen darf zudem eine Zusatzkraft eine Fachkraft ersetzen - aber eben nicht dauerhaft.
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Gewerkschaft ver.di warnt vor Überlastung des Systems
Unterstützung erhält das Kultusministerium von der Gewerkschaft ver.di. "'Einfach ein paar Kinder mehr pro Gruppe zuzulassen, löst das Problem jedoch nur rechnerisch", sagt Gewerkschaftssekretärin Nancy Hehl. "Eine solche Maßnahme gefährdet das System in unverantwortlicher Weise weiter, denn Fragen des Kinderschutzes und die Überlastung der Fachkräfte, die dann weiter abwandern, wären die desaströse Folge."
Hehl hat daher Verständnis für die verkürzten Öffnungszeiten der Kitas. Weder den Fachkräften noch den Kindern sei eine qualitative Verschlechterung der Rahmenbedingungen in den Kitas zumutbar. Wichtige Stichworte in diesem Zusammenhang seien Kinderschutz und Haftung.
Abholstreik laut ver.di rechtlich bedenklich
Hehl kann aber auch die Eltern verstehen, auf denen ein immenser Druck laste. Den "Abholstreik" sieht sie als Verzweiflungs-Reaktion. "Aus menschlicher Perspektive verstehe ich diese Reaktionen. Nur, rechtlich und auch in Bezug auf den Kinderschutz und die Fürsorgepflicht der Eltern halte ich das doch für recht bedenklich", sagt Hehl.
Die Gewerkschaftssekretärin fordert daher ein Moratorium bei den Rechtsansprüchen auf einen Kita-Platz und einen bundesweiten Stufenplan, wie diese Ansprüche mit dem Ausbau an Plätzen und der Ausbildung neuer Fachkräfte synchronisiert werden könnten. Für den Fall, dass Kitas wegen personeller Engpässe die Betreuung nicht mehr ausreichend anbieten können, brauche es weitere familienpolitische Maßnahmen, wie beispielsweise einen Endgeltersatz, also letztlich finanzielle Erleichterungen.
Kitaverband warnt, sieht aber auch Chancen
Marko Kaldewey vom Deutschen Kitaverband sieht ebenfalls dringenden Handlungsbedarf. Allerdings warnt er auch: "Ich denke, wir müssen alle aufpassen, dass sich da nicht etwas hochschaukelt." Vielmehr müsse man die Situation nun annehmen und beim Personal andere Entscheidungen treffen als bisher. Es brauche lokale und individuelle Umsetzungen für die jeweiligen Einrichtungen, so Kaldewey. Mit der gezielten Begleitung, Schulung und Förderung von Quer- und Direkteinsteigern könne man sehr viel erreichen.
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