Gut 30 Jahre ist die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung als Krankheit klassifiziert, seither wird über die Therapie dieser Verhaltensauffälligkeit gestritten.
ADHS versus ADS – hyperaktiv oder verträumt
Wie viele Menschen in Deutschland an der „Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung“ leiden, lässt sich nur schätzen: Zwischen zwei und sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen sollen betroffen sein. Es gibt auch eine auf den ersten Blick weniger auffällige Variante: nämlich ADS ohne Hyperaktivität. Diese Kinder trödeln dann ständig, sind verträumt und können sich schlecht organisieren.
Aber viele Kinder und Jugendliche mit ADHS können sich auch perfekt konzentrieren, wenn sie etwas brennend interessiert. Das Phänomen heißt „Hyperfokus“, erklärt Professor Tobias Renner. Er leitet die Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Tübingen und hat dieses Verhalten schon oft beobachtet: „Leider ist beim Computerspiel die Motivation häufig höher als bei der Mathematikaufgabe. Deswegen haben wir da im schulischen Kontext durchaus dann trotzdem die Schwierigkeiten.“
ADHS belastet auch die Psyche
Kinder mit einer Aufmerksamkeitsstörung sind zusätzlich oft besonders impulsiv und aufbrausend; dazu kommt vor allem bei Jungen häufig starke motorische Unruhe. Dieses „Vollbild“ der ADHS findet sich dreimal häufiger bei Jungen als bei Mädchen. Bei Mädchen ist die Unruhe oft nach innen gerichtet, sie fallen daher meist viel weniger auf.
Schwere Fälle von ADHS sind psychisch so belastend, dass Depressionen und Ängste möglicherweise als Folge der Aufmerksamkeitsstörung gehäuft auftreten.
Ursachen von ADHS
Nach Ansicht der meisten Fachleute liegt der Einfluss der Gene bei ADHS bei 70 bis 80 Prozent, so der Tübinger Psychiater Tobias Renner. Diese Annahme ist allerdings umstritten – vor allem bei Menschen, die auf alternative Heilmethoden setzen: So schreibt beispielsweise die Apothekerin Amrei Wittwer in ihrem Buch „Warum ADHS keine Krankheit ist – eine Streitschrift“: „ungesunde Lebensbedingungen“ würden ADHS vor allem auslösen. Dazu zählt sie Stress, Konflikte, Verlustereignisse oder Leistungsdruck in der Schule. Die Gehirne der Kinder funktionierten ganz normal, versichert die Pharmazeutin. Die Mannheimer Psychiaterin Sarah Hohmann widerspricht entschieden: „Das stimmt so nicht. Da gibt’s zum Beispiel eine Langzeitstudie, wo Kinder und Jugendliche über Jahre hinweg immer wieder im Kernspin untersucht worden sind. Und da sieht man, dass einzelne Gehirnregionen langsamer reifen.“
Behandlung von ADHS
Kinder und Jugendliche mit einer schweren Aufmerksamkeitsstörung bekommen in vielen Fällen Medikamente. Das entspricht schon lange den offiziellen Leitlinien. Ein wichtiges Detail aber hat sich im Sommer 2018 geändert: Seitdem gilt eine neue Leitlinie zu Diagnostik und Therapie von ADHS, erstmals haben sich 30 deutsche Fachgesellschaften auf gemeinsame Empfehlungen verständigt. Seitdem sollen Psychopharmaka nun auch schon bei mittelschweren Fällen verschrieben werden.
Methylphenidat heißt der Wirkstoff, der am häufigsten gegen ADHS verordnet wird. Er steckt auch in Ritalin. Ritalin und verwandte Mittel können Kindern mit ADHS dabei helfen, sich besser zu konzentrieren und ruhiger zu werden. Die Substanzen sollen dabei wie ein Reizfilter auf das Gehirn wirken. „Dieser Wirkstoff wirkt sich auf den Botenstoffwechsel aus (…). In Tierversuchen ist nachweisbar (…), dass sich die Konzentration von Dopamin zwischen den Nervenzellen verändert, und zwar in Richtung einer Normalisierung.“, sagt Tobias Renner, Leiter Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Tübingen.
Zu den Nebenwirkungen von Methylphenidat existieren leider viele Studien von schlechter Qualität. Das Risiko für „unerwünschte Ereignisse“ lässt sich daher nicht genau einschätzen. Bei manchen Kindern verursachen Psychostimulanzien wie Ritalin Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit und Wachstumsverzögerungen; auch Kreislaufprobleme sind möglich. Nur Kinder mit gesundem Herz sollten die Mittel bekommen.
Tobias Renner sieht aber keinen Grund zu übergroßer Sorge: „Es ist klar, dass diese Medikamente unerwünschte Wirkungen haben können. Dennoch sind sie in der Regel sehr gut verträglich. Und wir haben über 60 Jahre Erfahrung mit der Medikamentenklasse wie Ritalin, sodass wir in der Abwägung hier in der Regel einen klaren Vorteil sehen in der Verschreibung.“
Dennoch bleibt Psychotherapie eine entscheidende Säule der Behandlung, betont Sarah Hohmann. Psychologische Verfahren verbessern zwar in der Regel nicht die Aufmerksamkeit, können aber Selbstwertgefühl und Sozialkompetenz stärken.
ADHS betrifft nicht nur Kinder
Erwachsene mit ADHS haben noch größere Mühe als Kinder und Jugendliche, einen geeigneten Therapieplatz zu finden. Nur vereinzelt gibt es eigene Anlaufstellen. Experten schätzen, dass rund drei Prozent aller Erwachsenen in Deutschland unter einer Aufmerksamkeitsstörung leiden. Viele Betroffene ordnen ihre Schwierigkeiten im Alltag erst nach Jahren richtig ein. Hinter vielen Diagnosen wie Depression, Suchterkrankung, Borderline-Störung oder Angsterkrankung steckt eigentlich eine ADHS oder liegt ihnen zugrunde.
Neurofeedback – neuer Therapieansatz
Ein möglicher Therapieansatz sowohl für Erwachsene als auch für Kinder ist das sogenannte Neurofeedback. Die Methode wird bei unterschiedlichen Krankheitsbildern eingesetzt, auch bei Migräne oder nach einem Schlaganfall. Dabei wird zunächst die Aktivität in bestimmten Hirnregionen aufgezeichnet, die bei ADHS typischerweise unteraktiviert sind. Danach geht es darum, dass Patienten lernen, mit der Kraft ihrer Gedanken bestimmte Hirnregionen zu steuern. „Die Idee ist, dass sich diese Selbstregulation der Hirnaktivität dann auch auf andere Bereiche ausweitet, dass also eine allgemeine Verhaltensregulation möglich ist.“, sagt die Psychologin Dr. Friederike Blume.
Ob Neurofeedbacktraining wirklich hilft, ist noch nicht sicher. Studien mit neutralen Beobachtenden fehlen. Denn während Eltern von guter Wirksamkeit berichten, bemerken Lehrer keinen Unterschied im Verhalten der Kinder.
SWR 2019 / 2021
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