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Wie politisch dürfen Lehrkräfte sein?

Stand
Autor/in
Anja Schrum
Onlinefassung
Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Darf eine Mathelehrerin Coronaregeln ablehnen, ein Sportlehrer die Antifa bewerben? Demokratiebildung gehört zu Schule. Aber politische Kontroversen müssen verfassungskonform sein.

Beutelsbacher Konsens: 3 Grundsätze zur Orientierung für Lehrkräfte

Wie Lehrerinnen und Lehrer politische Haltungen im Unterricht umsetzen können, ist bereits 1976 formuliert worden, im sogenannten "Beutelsbacher Konsens". Er enthält drei Grundsätze, die das Ergebnis einer Tagung der baden-württembergischen Landeszentrale für Politische Bildung waren.

Bis heute gelten diese Grundsätze als richtungsweisend für die pädagogische Arbeit, die komplette Fassung lässt sich bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg nachlesen.

  1. Überwältigungsverbot. – Das heißt, Schülerinnen und Schüler dürfen nicht mit politischen Meinungen überrumpelt werden.
  2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.
  3. Die Schülerinnen und Schüler müssen in die Lage versetzt werden, politische Situationen und eigene Interessenlagen zu analysieren.

Diskussionen zwischen Schülern und Politikern – auch von der AfD?

Doch wer überhaupt seine politische Meinung sagen darf und wer nicht – auch darüber wird an manchen Schulen heftig gestritten. Das zeigte sich im Herbst 2021 bei der Bundestagswahl. Viele Schulen nahmen sie zum Anlass, Politikerinnen und Politiker der im Bundestag vertretenen Parteien zur Diskussion zu bitten. Mancherorts sorgte das wiederum für Diskussionen und sogar Proteste, vor allem, wenn es um die Frage ging, ob auch Vertreter der AfD zur Diskussion an die Schulen eingeladen werden sollten.

Klar ist aber: Im Unterricht selbst haben einseitige politische Positionen nichts zu suchen. Und Lehrkräfte, die den Klimawandel oder die Corona-Pandemie leugnen, können sich nicht auf das Kontroversitäts-Gebot des Beutelsbacher Konsenses berufen.

Schülerinnen und Schüler der Hamburger Gewerbeschule solidarisieren sich mit der Ida-Ehre-Schule in Altona im April 2019: Grund für den Protest war eine Veranstaltung der Schule zur bevorstehenden Europawahl, zu der auch die AfD eingeladen war
Schülerinnen und Schüler der Hamburger Gewerbeschule solidarisieren sich mit der Ida-Ehre-Schule in Altona im April 2019: Grund für den Protest war eine Veranstaltung der Schule zur bevorstehenden Europawahl, zu der auch die AfD eingeladen war

Berufsverbot für Antifa-Lehrer

Michael Csaszkóczy, Realschullehrer für Geschichte und Deutsch in Heidelberg, hatte sein politisches Engagement im Jahr 2004 ein Berufsverbot eingebracht. Seit seiner eigenen Schulzeit ist er politisch aktiv und engagiert sich gegen Rechtsextremismus.

Csaszkóczy ist in der "Antifaschistischen Initiative Heidelberg" und bietet "Antifaschistische Stadtrundgänge" an. Dabei führt er zu Orten von Verbrechen und erinnert an den Widerstand gegen die Nazis. Nach seinem Referendariat erhielt er eine Ladung zu einem "vertiefenden Einstellungsgespräch". Für Michael Csaszkóczy beginnt damit eine jahrelange juristischer Auseinandersetzung um die Einstellung in den Schuldienst in Baden-Württemberg.

"Radikalenerlass" 1972: freiheitliche demokratische Grundordnung

Michael Csaszkóczy recherchiert und nimmt Kontakt zu Menschen auf, die in den 1970er- und 1980er-Jahren mit Berufsverboten belegt worden waren, nachdem im Januar 1972 der sogenannte "Radikalenerlass" von Bund und Ländern verabschiedet worden war. Der Erlass sollte verhindern, dass angeblich "linke Verfassungsfeinde" im öffentlichen Dienst Beschäftigung fanden.

Bundesweit erhielten in den 1970er- und 1980er-Jahren über diesen Erlass Postboten, Verwaltungsbeamte, besonders aber Lehrer und Lehrerinnen Berufsverbote. Die Teilnahme an einer verbotenen Demonstration oder eine Reise in die DDR reichten, um Verdacht zu erregen.

Aufhebung des Berufsverbots für Michael Csaszkóczy

2007 hebt das Verwaltungsgericht Mannheim das Berufsverbot gegen Csaszkóczy auf. Das Land Baden-Württemberg muss ihn einstellen. Mehr noch: Csaszkóczy erstreitet eine Entschädigung. Ein wichtiger Schritt für ihn – nicht wegen des Geldes.

Daraufhin tritt Michael Csaszkóczy in den Schuldienst ein. Und wird weiterhin argwöhnisch beobachtet. Er hatte auf Akteneinsicht geklagt und erfahren, dass er seit seinem 18. Lebensjahr vom Verfassungsschutz beobachtet wurde und wohl auch noch wird. Trotzdem ist er weiter politisch aktiv. Und handelt sich mit seinem Engagement Ärger ein. Etwa als er im Mai 2017 eine öffentliche Veranstaltung der AfD in der Heidelberger Stadtbücherei besuchen wollte, woraufhin ihm ein AfD-Mitglied Hausverbot erteilte und später Strafanzeige stellte.

Gezielte Verunsicherung von Lehrkräften

Auch Sabine Achour, Professorin für Politische Bildung an der FU Berlin, beobachtet seit einiger Zeit das Bestreben verschiedener Gruppierungen vom rechten Rand, Lehrkräfte zu verunsichern oder gar einzuschüchtern. Und zwar nicht nur in den klassischen Fächern wie Politik oder Geschichte. In Zeiten von Klimawandel oder Corona kann es auch im Physik- oder Biologie-Unterricht politisch werden.

Mehr Meinung und Diskussion wagen, um die Demokratie zu stärken

Für Prof. Sabine Achour liegt in diesen ganzen Angriffen auch eine Chance: Der Beutelsbacher Konsens habe ein wahnsinniges Revival erlebt, sagt sie. Denn noch nie wurde so viel über politische Bildung, über Kontroversität und Grenzen des Diskutierbaren diskutiert, gerade in Schule und Bildung, so Achour. Also mehr Meinung und Diskussion wagen, um damit letztlich die Demokratie zu stärken.

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28.10.1969 Willy Brandt will "Mehr Demokratie wagen"

28.10.1969 | Der neu gewählte Bundeskanzler Willy Brandt sagt in seiner ersten Regierungserklärung, er wolle mehr Demokratie wagen. Das ist auch eine Reaktion auf die Ereignisse von 1968.

29.1.1972 Der neue Radikalenerlass – Kritik von Gewerkschaften und Studierenden

29.1.1972 | Anfang der 1970er Jahre nahm die politisierte Gewalt in Deutschland zu. Teile der Studentenbewegung haben sich radikalisiert. Andere vor allem linke Gruppen folgten offen der von Studentenführer Rudi Dutschke ausgegebenen Parole vom Marsch durch die Institutionen. In dieser politischen Stimmung beschließen Bund und Länder parteiübergreifend den sogenannten Radikalenerlass. Das Ziel war zu verhindern, dass Verfassungsfeinde den Staat unterwandern. Die Folge war, dass, bevor eine Lehrerin oder auch ein Bahn- oder Postbeamter eingestellt wurde, eine sogenannte Regelanfrage beim Verfassungsschutz gestellt wurde. Welches Verhalten genau als verfassungsfeindlich gelten sollte, war allerdings nicht eindeutig definiert. Klar war, dass es nicht nur um Parteizugehörigkeit – etwa zu kommunistischen Parteien gehen sollte. Sowohl die SPD-geführte Bundesregierung unter Willy Brandt als auch die unionsgeführten Länder fassten den Beschluss gemeinsam. Die SPD auch deshalb, um ihre Distanz zum Kommunismus zu unterstreichen. Denn der SPD wurde – gerade auch wegen Brandts Ostpolitik und der Verträge mit Moskau – eine Nähe zum Kommunismus immer wieder vorgeworfen. Es ist der 29.1.1972. Hamburg hat als erstes Bundesland den Radikalenerlass umgesetzt – und erntet dafür viel Kritik, nicht nur von Gewerkschaften. Der folgende Beitrag – der in seiner archivierten Fassung vorne und hinten etwas abreißt - zeigt die Reaktionen auf den neuen Erlass.

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