Darf eine Mathelehrerin Coronaregeln ablehnen, ein Sportlehrer die Antifa bewerben? Demokratiebildung gehört zu Schule. Aber politische Kontroversen müssen verfassungskonform sein.
Beutelsbacher Konsens: 3 Grundsätze zur Orientierung für Lehrkräfte
Wie Lehrerinnen und Lehrer politische Haltungen im Unterricht umsetzen können, ist bereits 1976 formuliert worden, im sogenannten "Beutelsbacher Konsens". Er enthält drei Grundsätze, die das Ergebnis einer Tagung der baden-württembergischen Landeszentrale für Politische Bildung waren.
Bis heute gelten diese Grundsätze als richtungsweisend für die pädagogische Arbeit, die komplette Fassung lässt sich bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg nachlesen.
- Überwältigungsverbot. – Das heißt, Schülerinnen und Schüler dürfen nicht mit politischen Meinungen überrumpelt werden.
- Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.
- Die Schülerinnen und Schüler müssen in die Lage versetzt werden, politische Situationen und eigene Interessenlagen zu analysieren.
Diskussionen zwischen Schülern und Politikern – auch von der AfD?
Doch wer überhaupt seine politische Meinung sagen darf und wer nicht – auch darüber wird an manchen Schulen heftig gestritten. Das zeigte sich im Herbst 2021 bei der Bundestagswahl. Viele Schulen nahmen sie zum Anlass, Politikerinnen und Politiker der im Bundestag vertretenen Parteien zur Diskussion zu bitten. Mancherorts sorgte das wiederum für Diskussionen und sogar Proteste, vor allem, wenn es um die Frage ging, ob auch Vertreter der AfD zur Diskussion an die Schulen eingeladen werden sollten.
Klar ist aber: Im Unterricht selbst haben einseitige politische Positionen nichts zu suchen. Und Lehrkräfte, die den Klimawandel oder die Corona-Pandemie leugnen, können sich nicht auf das Kontroversitäts-Gebot des Beutelsbacher Konsenses berufen.
Berufsverbot für Antifa-Lehrer
Michael Csaszkóczy, Realschullehrer für Geschichte und Deutsch in Heidelberg, hatte sein politisches Engagement im Jahr 2004 ein Berufsverbot eingebracht. Seit seiner eigenen Schulzeit ist er politisch aktiv und engagiert sich gegen Rechtsextremismus.
Csaszkóczy ist in der "Antifaschistischen Initiative Heidelberg" und bietet "Antifaschistische Stadtrundgänge" an. Dabei führt er zu Orten von Verbrechen und erinnert an den Widerstand gegen die Nazis. Nach seinem Referendariat erhielt er eine Ladung zu einem "vertiefenden Einstellungsgespräch". Für Michael Csaszkóczy beginnt damit eine jahrelange juristischer Auseinandersetzung um die Einstellung in den Schuldienst in Baden-Württemberg.
"Radikalenerlass" 1972: freiheitliche demokratische Grundordnung
Michael Csaszkóczy recherchiert und nimmt Kontakt zu Menschen auf, die in den 1970er- und 1980er-Jahren mit Berufsverboten belegt worden waren, nachdem im Januar 1972 der sogenannte "Radikalenerlass" von Bund und Ländern verabschiedet worden war. Der Erlass sollte verhindern, dass angeblich "linke Verfassungsfeinde" im öffentlichen Dienst Beschäftigung fanden.
Bundesweit erhielten in den 1970er- und 1980er-Jahren über diesen Erlass Postboten, Verwaltungsbeamte, besonders aber Lehrer und Lehrerinnen Berufsverbote. Die Teilnahme an einer verbotenen Demonstration oder eine Reise in die DDR reichten, um Verdacht zu erregen.
Radikalenerlass: Kritik an Kretschmanns offenem Brief
Aufhebung des Berufsverbots für Michael Csaszkóczy
2007 hebt das Verwaltungsgericht Mannheim das Berufsverbot gegen Csaszkóczy auf. Das Land Baden-Württemberg muss ihn einstellen. Mehr noch: Csaszkóczy erstreitet eine Entschädigung. Ein wichtiger Schritt für ihn – nicht wegen des Geldes.
Daraufhin tritt Michael Csaszkóczy in den Schuldienst ein. Und wird weiterhin argwöhnisch beobachtet. Er hatte auf Akteneinsicht geklagt und erfahren, dass er seit seinem 18. Lebensjahr vom Verfassungsschutz beobachtet wurde und wohl auch noch wird. Trotzdem ist er weiter politisch aktiv. Und handelt sich mit seinem Engagement Ärger ein. Etwa als er im Mai 2017 eine öffentliche Veranstaltung der AfD in der Heidelberger Stadtbücherei besuchen wollte, woraufhin ihm ein AfD-Mitglied Hausverbot erteilte und später Strafanzeige stellte.
Gezielte Verunsicherung von Lehrkräften
Auch Sabine Achour, Professorin für Politische Bildung an der FU Berlin, beobachtet seit einiger Zeit das Bestreben verschiedener Gruppierungen vom rechten Rand, Lehrkräfte zu verunsichern oder gar einzuschüchtern. Und zwar nicht nur in den klassischen Fächern wie Politik oder Geschichte. In Zeiten von Klimawandel oder Corona kann es auch im Physik- oder Biologie-Unterricht politisch werden.
Mehr Meinung und Diskussion wagen, um die Demokratie zu stärken
Für Prof. Sabine Achour liegt in diesen ganzen Angriffen auch eine Chance: Der Beutelsbacher Konsens habe ein wahnsinniges Revival erlebt, sagt sie. Denn noch nie wurde so viel über politische Bildung, über Kontroversität und Grenzen des Diskutierbaren diskutiert, gerade in Schule und Bildung, so Achour. Also mehr Meinung und Diskussion wagen, um damit letztlich die Demokratie zu stärken.
SWR 2021
Bildung Rechtsradikale Lehrkräfte – Wie Schulen und Behörden mit ihnen umgehen sollen
Lehrberufe gelten in der rechten Szene als gute Möglichkeit, Kinder und Jugendliche gezielt zu erreichen. Was können Schulen tun, wenn ihr Personal politisch rechts auffällt?
Schule: aktuelle Beiträge
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Heute ist die ICILS-Studie für den Bereich Digitalkompetenz vorgestellt worden.
Zum dritten Mal sind die computer- und informationsbezogenen Kompetenzen von Schüler*innen der 8. Jahrgangsstufe international untersucht worden. Trotz großer Anstrengungen haben Schüler*innen in Deutschland deutlich an Kompetenz verloren.
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Bildung Wie geht es weiter mit der Werkrealschule in Baden-Württemberg?
In Baden-Württemberg sollte die Werkrealschule die Hauptschule ersetzen, weil die nicht mehr beliebt war. Inzwischen gibt es nur noch zwei Hauptschulen im Land. Doch die Landesregierung will den Werkrealschulabschluss abschaffen. Das sorgt für Diskussionen.
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Bildung OECD-Studie: Mehr junge Erwachsene ohne höheren Schulabschluss
In Deutschland machen junge Menschen seltener als in anderen Ländern einen höheren Schulabschluss, wie etwa Berufsschulabschluss oder Hochschulreife. Das zeigt der neue OECD-Bericht, der die Bildungssysteme von 38 Industrieländern vergleicht.
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Archivradio
17.2.1968 Rudi Dutschkes Rede auf dem Internationalen Vietnamkongress
17.2.1968 | Der Sozialistische Deutsche Studentenbund organisiert den Internationalen Vietnamkongress im Auditorium Maximum der TU Berlin. 5.000 Teilnehmer aus 14 Ländern waren gekommen – eines der zentralen Ereignisse der deutschen Studentenbewegung. Wichtigste Akteure sind Karl Dietrich Wolff und Rudi Dutschke. Wir hören die Rede von Rudi Dutschke – zwei Monate vor dem Anschlag auf ihn.
28.10.1969 Willy Brandt will "Mehr Demokratie wagen"
28.10.1969 | Der neu gewählte Bundeskanzler Willy Brandt sagt in seiner ersten Regierungserklärung, er wolle mehr Demokratie wagen. Das ist auch eine Reaktion auf die Ereignisse von 1968.
29.1.1972 Der neue Radikalenerlass – Kritik von Gewerkschaften und Studierenden
29.1.1972 | Anfang der 1970er Jahre nahm die politisierte Gewalt in Deutschland zu. Teile der Studentenbewegung haben sich radikalisiert. Andere vor allem linke Gruppen folgten offen der von Studentenführer Rudi Dutschke ausgegebenen Parole vom Marsch durch die Institutionen. In dieser politischen Stimmung beschließen Bund und Länder parteiübergreifend den sogenannten Radikalenerlass. Das Ziel war zu verhindern, dass Verfassungsfeinde den Staat unterwandern. Die Folge war, dass, bevor eine Lehrerin oder auch ein Bahn- oder Postbeamter eingestellt wurde, eine sogenannte Regelanfrage beim Verfassungsschutz gestellt wurde. Welches Verhalten genau als verfassungsfeindlich gelten sollte, war allerdings nicht eindeutig definiert. Klar war, dass es nicht nur um Parteizugehörigkeit – etwa zu kommunistischen Parteien gehen sollte. Sowohl die SPD-geführte Bundesregierung unter Willy Brandt als auch die unionsgeführten Länder fassten den Beschluss gemeinsam. Die SPD auch deshalb, um ihre Distanz zum Kommunismus zu unterstreichen. Denn der SPD wurde – gerade auch wegen Brandts Ostpolitik und der Verträge mit Moskau – eine Nähe zum Kommunismus immer wieder vorgeworfen. Es ist der 29.1.1972. Hamburg hat als erstes Bundesland den Radikalenerlass umgesetzt – und erntet dafür viel Kritik, nicht nur von Gewerkschaften. Der folgende Beitrag – der in seiner archivierten Fassung vorne und hinten etwas abreißt - zeigt die Reaktionen auf den neuen Erlass.
30.1.1972 Helmut Kohl über Staatsautorität und Radikalenerlass
30.1.1972 | Zwei Tage, nachdem Bund und Länder den Radikalenerlass beschlossen haben, gibt der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Helmut Kohl dem Südwestfunk ein Interview, in dem er erklärt, warum er den Erlass richtig findet und er ein gutes Mittel ist, um eine Unterwanderung des Staats durch Verfassungsfeinde zu verhindern. Zunächst spricht er über die zunehmende Kriminalität und über die aus seiner Sicht fehlende Staatsautorität. Konkret um den Radikalenerlass geht es in der zweiten Hälfte dieses Interviews mit SWF-Redakteur Henning Röhl.
24.11.1978 Helmut Schmidt distanziert sich von Radikalenerlass
24.11.1978 | 1972 hatten Bund und Länder, SPD und Union noch gemeinsam den Radikalenerlass beschlossen, der Extremisten vom Beamtendienst fernhalten sollte. Doch mit den Jahren rücken einige Länder wieder zunehmend davon ab, ebenso die SPD-geführte Bundesregierung. Aus Sicht von Bundeskanzler Helmut Schmidt schießt der Erlass mit Kanonen auf Spatzen. Auf dem Hamburger Landesparteitag der SPD am 24. November 1978 erklärt Schmidt ausführlich seine Position – die letztlich auch dazu führen, dass seine Bundesregierung, die den Beschluss schon einige Zeit ohnehin nicht mehr anwendet, sich 1979 endgültig von ihm verabschieden wird. Mit dieser Rede stimmt er seine Parteifreunde in Hamburg darauf hin.
1979 verabschiedet sich der Bund vom Radikalenerlass, dann nach und nach auch die Bundesländer, zuletzt Bayern 1991.