In einer Gesellschaft, die Sex offen bis an die Schmerzgrenze präsentiert, wird es eigentümlich still, wenn es um alte Menschen geht. Doch auch sie wollen und haben Sex.
Der Berliner Sexualwissenschaftler und klinische Psychologe Christoph Josef Ahlers beklagt ein nach wie vor verengtes Verständnis von Sexualität. Den "Himmel auf Erden", wie sein letztes Buch auch heißt, kann erleben, wer nicht kritisch jedes Detail beäugt. Das Alter müsste dafür eigentlich wie geschaffen sein. Doch wir leben in einer Gesellschaft, die stark auf Äußerlichkeiten achtet.
Sexualität im Alter ist immer noch ein Tabu. Viele Menschen, so Christoph Josef Ahlers, würden annehmen, dass Sexualität an ein jugendliches Aussehen und Attraktivität gekoppelt sei. Das ist natürlich nicht der Fall. Nur aus der Körper-narzisstischen Perspektive unserer gesellschaftlichen Bewertungssysteme erscheint Sexualität alter Menschen als unappetitlich oder unästhetisch. Und das alles möchte man sich so eigentlich nicht vorstellen und auch nicht sehen, sagt Ahlers.
Länger(e) sexuelle Beziehungen
Sexualität im Alter wird heute für immer mehr Menschen zu einem Thema, weil die Lebenserwartung deutlich zugenommen hat. Die Dauer einer Ehe lag noch im 19. Jahrhundert bei 20 Jahren, dann starben die Menschen. Sie liegt heute – zumindest gemessen an der Lebenserwartung – doppelt oder dreimal so hoch. Das führt zu der Herausforderung, dass wir immer länger Beziehungen, auch sexueller Art, führen können. Und weit mehr Menschen, als allgemein angenommen, möchten das auch.
Länge der Beziehung zählt
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat Untersuchungen veröffentlicht, die deutlich machen, dass sexuelle Aktivitäten nicht zwangsläufig mit dem Alter, sondern eher mit der Dauer der Beziehung abnehmen. Wer im Alter eine neue Beziehung beginnt, hat auch wieder mehr Sex.
Viele Männer haben ab 70 leichte Erektionsstörungen, aber die wenigsten sind impotent und können auch jenseits der 90 noch eine Erektion haben. Frauen, so heißt es oft verallgemeinernd auch von Medizinern, würden aufgrund der hormonellen Umstellung jenseits der Menopause das Interesse an Sex verlieren; litten an Trockenheit und Schmerzen beim Verkehr. Tatsächlich kann, muss es aber keineswegs zu Beeinträchtigungen kommen.
Bedürfnisse versus Möglichkeiten
Eine Untersuchung von Schweizer Forschern ergab, dass bei über 50 Prozent der befragten Frauen das sexuelle Interesse während der Wechseljahre gleich blieb, bei 8 Prozent stieg es sogar an. Die meisten Frauen waren laut der Studie bis Ende 70 sexuell interessiert. Und die Erregbarkeit und Orgasmusfähigkeit blieben unverändert erhalten.
Laut einer repräsentativen bundesweiten Befragung aus dem Jahr 2005 haben allerdings nur etwa ein Viertel der Frauen ab dem 65. Lebensjahr noch ein aktives Sexualleben. Die Tendenz dürfte steigend, aber noch nicht gravierend anders sein. Das liegt auch daran, dass kein Partner vorhanden ist: Viele Frauen sind verwitwet, immer mehr auch geschieden und möchten sich nicht noch einmal binden.
Unter den Männern derselben Altersgruppe sind dagegen über die Hälfte gemäß der Befragung noch sexuell aktiv, erst ab dem 75. Lebensjahr nimmt dies deutlich ab. Das sexuelle Verlangen, Fantasien und der Wunsch nach Geschlechtsverkehr bleiben bis ins hohe Alter bestehen.
Kampf für Bedürfnisse passiert selten
Unsere gesellschaftlichen Vorstellungen vom Alter, durch medizinische Informationen noch gestützt, folgen einer Defizit-Hypothese: Alles wird immer schlechter. Die Gesundheit, das Aussehen, die Körperfunktionen. Die Haut wird schlaff, der Hormonspiegel sinkt, die sexuelle Funktionstüchtigkeit erlahmt.
Aufgrund dieser Zuschreibungen entwickeln alternde Menschen geradezu die Erwartungen, sie müssten zu asexuellen Wesen werden – auch wenn sie anders empfinden. Nur wenige nehmen diese Empfindungen ernst – und den Kampf für ihre Bedürfnisse auf. Sie sind es, die bei Christoph Josef Ahlers in der Praxis landen. Und die erste Frage, die die meisten Klienten beschäftigt, lautet: Dürfen wir das?
Unter den Paaren, die zu Christoph Josef Ahlers in die Praxis kommen, sind auch solche, die Mitte 80 sind. Einige erleben nach einer Phase der Klärung das erste Mal in ihrem Leben angst- und stressfrei Intimität. Der Schlüssel dazu liegt in einem erweiterten Verständnis von Sexualität: Intimität, Zärtlichkeit, Geborgenheit – und nicht einfach nur der mechanische Akt des Geschlechtsverkehrs.
Essen und Fernsehen
Im Alter können die alten Schwierigkeiten – verschämtes Schweigen und eine Unterdrückung der Sexualität – einfach weiter bestehen bleiben. Es kann aber auch zu unverhofften Begegnungen, Erfüllung und einer Befreiung kommen.
Bereits die Rahmenbedingungen erschweren in vielen Einrichtungen ein Gefühl der Geborgenheit, das für eine gelingende Intimität nötig wäre. Es fehlt meist an heimeligen Ecken, an Zeit und Rückzugsräumen und an der nötigen Kommunikation. Und vielerorts fehlt es auch gar nicht an der Offenheit der Mitarbeiter dem Thema gegenüber – wohl aber an der Zeit, sich mit dem vergleichsweise nachrangigen Bedürfnis zu befassen, denn die Pflegeteams sind oft chronisch unterbesetzt.
Wünsche und Vorlieben auch im Alter
Wird Sexualität ermöglicht, kommen viele der Bewohnerinnen und Bewohner zur Ruhe, sind ausgeglichener, geselliger und weniger übergriffig. Eine Maßnahme kann daher darin bestehen, eine Sexarbeiterin einzubestellen. Doch manchmal ist das gar nicht nötig, wenn sich zum Beispiel ein Paar in der Einrichtung zueinander hingezogen fühlt.
Die Soziologin Ruth van der Vight-Klußmann erhofft sich für die Zukunft mehr offene Kommunikation zu dem Thema, und sei es nur in Form von erweiterten Biografie-Bögen, die vielleicht auch schon vorsorglich zu Hause ausgefüllt werden können. Hier können Wünsche und Vorlieben schon früh abgefragt werden.
Für Sexualität gilt: Es gibt altersbedingte Veränderungen, aber keine Altersgrenze. Wer sich von herkömmlichen Vorstellungen freimacht, kann die Sache entspannter angehen und noch eine Menge erleben. Entdeckt vielleicht sogar das Wesentliche an der Sexualität.
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