Magnus Hirschfeld eröffnet 1919 das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin, dem damaligen Zentrum homosexuellen Lebens. 1933 wird das Institut von Nationalsozialisten geplündert. Ihnen war Hirschfeld dreimal verhasst: als Sozialist, Jude und Homosexueller.
Ziel: Entkriminalisierung der Homosexualität
Am 15. Mai 1897 gründet der Arzt und preußische Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld (14.5.1868 - 14.5.1935) in seiner Charlottenburger Wohnung in der Berliner Straße 104 – heute Otto-Suhr-Allee – mit dem Verleger Max Spohr, dem Juristen Eduard Oberg und dem Schriftsteller Franz Joseph von Bülow gemeinsam das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK). Das Komitee ist die weltweit erste Organisation mit dem Hauptziel: Entkriminalisierung der Homosexualität. Für Deutschland bedeutet das vor allem: Abschaffung des berüchtigten Homosexuellenparagraphen 175, der Homosexualität unter Strafe stellt.
"Per scientiam ad justitiam" – "Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit". So lautet das Motto Magnus Hirschfelds. Er will Öffentlichkeit und listet die Namen berühmter männlicher Homosexueller auf: Sokrates, Michelangelo, Leonardo da Vinci, Friedrich der Große. Für Hirschfeld ist Homosexualität angeboren und völlig wertfrei. Und er ist keineswegs ein leiser Zeitgenosse: Hirschfeld zieht viele Prominente an, macht Kulturabeit und ist gesellschaftlich aktiv. Viele Künstler teilen die Meinung von Magnus Hirschfeld: Gerhart Hauptmann, Max Liebermann und August Bebel, um nur einige zu nennen.
Berlin: erste Magazine, Schlager und Filme für homosexuelles Publikum
Auf die ersten Schwulenzeitschrift "Der Eigene" folgt die erste Lesbenzeitschrift "Die Freundin". Bis 1919 entstehen 30 verschiedene Magazine für homosexuelles Publikum in Berlin, während es weltweit nur noch zwei weitere gibt, in Paris und Chicago. Bruno Balz und Erwin Neuber dichten 1924 den Schlager "Bubi, lass uns Freunde sein" für die erste Schallplatte, auf der Lieder homosexuelle Themen behandelten. Für "Anders als die Anderen", den ersten Kinofilm, der bis dahin jemals Homosexualität thematisiert hatte, schreibt Magnus Hirschfeld 1919 persönlich das Drehbuch und spielt neben Conrad Veidt, Reinhold Schüntzel und Anita Berber einen Arzt – sich selbst.
Rund 100.000 Berlinerinnen und Berliner, so schätzt Hirschfeld damals, sind homosexuell. Er selbst gehört dazu. Und in keiner anderen Metropole der damaligen Zeit wird die gleichgeschlechtliche Liebe derart offensichtlich gelebt.
Nach Vorträgen in der ganzen Welt und viel Lobbyarbeit erfüllt sich Magnus Hirschfeld am 6. Juli 1919 seinen wissenschaftlichen Traum: Er eröffnet das Institut für Sexualwissenschaft. In einem alten herrschaftlichen Gebäude im Tiergarten, dort, wo heute das Haus der Kulturen der Welt steht, errichtet er das erste wissenschaftliche Institut für Sexologie. Internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beginnen, dafür nach Berlin zu reisen. Erworben hat Hirschfeld das Gebäude mit 400.000 Reichsmark aus seinem Privatvermögen. Das Institut für Sexualwissenschaft ist eine für die damalige Zeit einmalige beratende, behandelnde und aufklärende Einrichtung, und zwar für alle Schichten. Laut Hirschfeld sind allein 14.000 Fragen anonym eingesandt worden.
Erste geschlechtsangleichende Operation im Jahr 1930
In der Zeit zwischen 1917 und 1920 verfasst Hirschfeld sein wohl bedeutendstes Werk, eine dreibändige Sexualpathologie. Hirschfeld schreibt außerdem Medizingeschichte, als er zusammen mit dem Arzt Ludwig Levy-Lenz 1930 die erste geschlechtsangleichende Operation vornimmt. Lili Elbe, eine dänische Malerin, ist wahrscheinlich der erste intersexuelle Mensch mit sowohl männlichen wie weiblichen Geschlechtsorganen, an dem eine geschlechtsangleichende Operation vollzogen wird.
Hirschfelds medizinische Praktiken sind heute umstritten
Magnus Hirschfeld hat allerdings auch jene männlichen Homosexuellen, die auf Grund seiner biologischen Forschung davon ausgingen, dass Homosexualität auch behandelt werden könne, an andere Ärzte überwiesen. Diese haben die Patienten kastriert und ihnen Hoden von Heterosexuellen implantiert.
Nicht nur Magnus Hirschfelds medizinische Praktiken, auch sein wissenschaftlicher Ansatz ist heute umstritten. Sein absoluter Glaube an die Biologie ließ ihn dem Sozialdarwinismus und der Eugenik zuneigen. Er gründete eine "Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik". Er warb damit für "sexuelle Selektion", um die "geistige Tüchtigkeit der Nachkommenschaft" zu verbessern. Er war somit gleichzeitig weit entfernt und ganz auf Linie der Nationalsozialisten.
Die Nationalsozialisten sehen in Hirschfeld ein Sicherheitsrisiko, eine Gefahr für das Bevölkerungswachstum der "arischen Rasse", und nicht nur in ihm. Zehntausende homosexueller Männer werden zu Gefängnis, Zuchthaus und Konzentrationslager verurteilt, die homosexuelle Bürgerrechtsbewegung wird zerschlagen, schwule Treffpunkte geschlossen, Zeitschriften verboten und dann, am 6. Mai 1933, wird das Institut für Sexualforschung geplündert und seine Bibliothek verbrannt.
Hirschfeld schaut sich alles von Paris aus an, in einem Kino sieht er in der Wochenschau, wie sein Institut zerstört wird. In Paris versucht er eine Art zweites Institut für Sexualwissenschaft aufzubauen, doch es gelingt ihm nicht. 1935 stirbt er an seinem 65. Geburtstag in Nizza. Hirschfeld-Zitate wie "Die Begriffe übernatürlich, unnatürlich und widernatürlich sind Zeichen mangelnder Naturerkenntnis" oder "Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit" haben dennoch bis heute nichts von ihrer Bedeutung verloren.
Homosexualität
Leben Verbotene Liebe unter Männern – Der Paragraph 175 und seine Folgen
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Literatur
Buchkritik Rainer Herrn: Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft
Magnus Hirschfeld war ein Pionier der Sexualwissenschaft. Endlich beleuchtet eine neue Studie die wechselvolle Geschichte des 1919 gegründeten und wegweisenden Instituts für Sexualwissenschaft.
Rezension von Roman Herzog.
Suhrkamp Verlag, 681 Seiten, 36 Euro
ISBN 978-3-518-43054-5
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