SWR2 Wissen

Nackt sein – Zwischen Freizügigkeit und Schamgefühl

Stand
Autor/in
Elisa Buhrke
Onlinefassung
Candy Sauer

Oben ohne im Schwimmbad, nackt in der Familie, bedeckt in der Sauna: Womit wir uns wohlfühlen, hängt von Erziehung, Alter, Geschlecht, Kultur und von persönlichen Vorlieben ab.

Freizügig in den 1970ern, heute verklemmt?

Die "Partner 5-Studie Erwachsenensexualität" von 2020 zeigt, dass vor allem junge Erwachsene unter 25 Jahren zurückhaltend mit ihrer Nacktheit umgehen. So haben unter ihnen immerhin 56 Prozent mindestens einmal nackt gebadet – ein Viertel will es jedoch gar nicht ausprobieren. In den höheren Altersgruppen sind die Menschen aufgeschlossener. Bei den über 50-Jährigen waren 83 Prozent schon mindestens einmal Nacktbaden, nur sechs Prozent können sich dies gar nicht vorstellen. Ähnlich sieht es auch bei den Saunabesuchen aus.

Doch dieser Generationenunterschied liegt nicht nur am Alter – unsere Einstellung zur Nacktheit hat sich laut Konrad Weller, emeritierter Professor für Sexualwissenschaft und Psychologie an der Hochschule Merseburg, generell verändert. Während es in den 1970er-Jahren – im Rahmen einer sexualfreundlichen Erziehung – ganz normal war, dass sich Eltern nackt vor ihren Kindern zeigten, verhalten sie sich heute vorsichtiger. Konrad Weller: "Inzwischen ist es so, dass wir mit Nacktheit viel intimer umgehen, oder dass wir sie mit mehr Scham und auch mit mehr Sensibilität betrachten, dass wir grenzachtender mit Nacktheit umgehen. Das hängt damit zusammen, dass [wir] insbesondere ab den 1990er-Jahren, [...] einen starken Diskurs haben, der sich mit Gewalt und auch mit Missbrauch, auch familiärem Missbrauch, auseinandersetzt. Das hat dazu geführt, dass Eltern und Kinder sehr viel grenzachtender umgehen und dass auch der unbefangene Umgang mit Nacktheit deutlich abgenommen hat."

Nacktheit in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen

Kinder erlernen den Umgang mit der eigenen Nacktheit nicht nur in der eigenen Familie, sondern auch in Kindertagesstätten und unter Gleichaltrigen, so Entwicklungspsychologin Bettina Schuhrke. Besonders während der Pubertät verändert sich der Körper von Heranwachsenden stark – das verunsichert. Jugendliche achten deshalb besonders stark auf das Urteil anderer, legen viel Wert auf ihr Aussehen. Das kann auch dazu führen, dass sie sich für ihren Körper schämen und ihn lieber bedecken.

Nacktwandern – unverhüllt in der Natur

Menschen, die nackt wandern gehen, leben einen besonders unbefangenen Umgang mit der eigenen Nacktheit. Dafür gibt es zwei offizielle Wege: Den Harzer Naturistenstieg und den Naturistenweg Undeloh in der Lüneburger Heide. Im Internet organisieren sich aber auch Gruppen, um überall in Deutschland nackt zu wandern. Im Juni 2022 waren im Rothaargebirge in Nordrhein-Westfalen bei einer Wanderung ca. vierzig Personen dabei – hauptsächlich Männer, viele über 60 Jahre alt, nur wenige Jüngere. Für viele von ihnen gehört das Nacktsein zu Hause und in der Öffentlichkeit ganz selbstverständlich zum Alltag dazu.

Drei Mitglieder der sächsischen Nacktwanderfreunde suchen ihren Weg im Irrgarten der Sinne
Drei Mitglieder der sächsischen Nacktwanderfreunde suchen ihren Weg im Irrgarten der Sinne

FKK-Bewegung entstand im Deutschen Kaiserreich

Die organisierte Freikörperkultur-Bewegung entstand Ende des 19. Jahrhunderts im Deutschen Kaiserreich, so Maren Möhring, Professorin für Kultur- und Gesellschaftsgeschichte an der Universität Leipzig. Die frühen FKK-Anhänger sahen den nackten Körper für sich nicht als sexuell an und wollten ihn enttabuisieren. Frei von Körpernormen war die Bewegung jedoch nicht, denn sie propagierte Schlankheit und Muskeltraining als ihre Ideale.

FKK um 1920 am Badesee. Die organisierte Freikörperkultur-Bewegung entstand Ende des 19. Jahrhunderts im Deutschen Kaiserreich.
FKK um 1920 am Badesee. Die organisierte Freikörperkultur-Bewegung entstand Ende des 19. Jahrhunderts im Deutschen Kaiserreich.

Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich die FKK zu einer Massenbewegung. In der DDR gehörte das Nacktbaden sogar zum Mainstream, allerdings waren die Menschen dafür nicht zwangsläufig Mitglied in einem Verein. Auch in der BRD verloren feste Vereinsstrukturen seit den 1960er- und 1970er-Jahren an Bedeutung. Im Zuge der sexuellen Revolution ab 1968 war der Umgang mit der eigenen Nacktheit ohnehin sehr unbefangen.

Ein Mann spielt um 1980 an einem FKK-Strand bei Leipzig Gitarre, eine Frau und ein weiterer Mann hören zu: In der DDR gehörte das Nacktbaden zum Mainstream, allerdings waren die Menschen dafür nicht zwangsläufig Mitglied in einem Verein
Am FKK-Strand bei Leipzig, um 1980. In der DDR gehörte das Nacktbaden zum Mainstream, allerdings waren die Menschen dafür nicht zwangsläufig Mitglied in einem Verein

Oben ohne im Schwimmbad: Debatte um Gleichberechtigung  

Seit Mai 2022 erlauben Göttinger Schwimmbäder allen Besuchern, oben ohne zu baden – auch Frauen. Zumindest probeweise und am Wochenende. Das entfachte bundesweit eine Debatte in den Medien: Müssen die Körper aller Geschlechter grundsätzlich gleichbehandelt werden? So fordert es z.B. die Bewegung "Gleiche Brust für alle". Sie setzt sich für die Entsexualisierung weiblicher Brüste ein. Eine repräsentative YouGov-Umfrage im Auftrag der dpa zeigt, so berichtet des ZDF im Juni 2022, dass sogar 37 Prozent der Deutschen für ein "Oben ohne für alle" im Schwimmbad wären – 28 Prozent jedoch auch dagegen. Und mehr Frauen als Männer bezeichnen sich in Bezug auf ihren eigenen Körper als schamhaft, insbesondere junge Frauen im Alter von 18 bis 25. Dazu Prof. Maren Möhring: "Ich finde das sehr spannend, weil es da um das Recht auf körperliche Selbstbestimmung geht. Gleichzeitig haben wir aber nun mal eine sexualisierte Welt, in der wir uns bewegen, und da spielen Brüste eine ganz große Rolle. Insofern kann man das auch nicht einfach abtun und sagen, das ist ein Körperteil wie jedes andere. Das stimmt so nicht, würde ich sagen, weil es historisch nicht das geworden ist."

Bodyshaming bei Frauen

Frauen sind stärker von Körperscham betroffen als Männer, sagt auch die Psychoanalytikerin Ada Borkenhagen. Dies liegt an den Schlankheits- und Schönheitsidealen, die Frauen über Werbung, Social Media und Film erlernen. Die Body Positivity bzw. Acceptance-Bewegung hingegen versucht, mehr diverse Körper abzubilden: dünn oder dick, jung oder alt – Menschen, die nicht der vorherrschenden Schönheitsnorm entsprechen. Das kann auch dabei helfen, den eigenen nackten Körper zu akzeptieren.  

SWR 2022

Aufklärung

Sexualkunde Lehrer lernen an der Uni zu wenig über sexuelle Bildung

Der Sexualkundeunterricht an Schulen funktioniert nicht ideal – das belegen Studien. Sexuelle Identität und Diversität kommen zu kurz, der Lehrplan beschränkt sich auf biologische Funktionen und Verhütungsmittel. Der Onlinekurs „TeachLOVE“ will das ändern.
Jochen Steiner im Gespräch mit der Verhaltenspsychologin Dr. Johanna Degen.

SWR2 Impuls SWR2

Pubertät

Familie Jungen in der Pubertät – Wild, faul und missverstanden?

In der Schule gelten sie oft als besonders faul und antriebslos. Auf Eltern wirken sie oft rebellisch. Nur Einbildung? Oder warum sind pubertierende Jungs so schwierig?

Das Wissen SWR Kultur

Psychologie Selbstverletzung bei Jugendlichen – Warum Ritzen zur Sucht wird

Jeder dritte Jugendliche hat sich schon mal selbst geritzt, geschlagen, verbrüht. Warum verletzen junge Menschen sich selbst und wie gelingt ein anderer Umgang mit Gefühlen?

SWR2 Wissen SWR2

Gesellschaft Transidentität bei Kindern – Die schwierige Entscheidung der Geschlechtsangleichung

Immer mehr Kinder identifizieren sich nicht mit ihrem zugewiesenen Geschlecht. Die Folgen einer Geschlechtsangleichung müssen sie mit ihren Eltern und Mediziner*innen wie Psycholog*innen gut ergründen.

SWR2 Wissen SWR2

Körpergefühl und Körperbewusstsein

Gesellschaft "Body Shaming" – Wie dicke Menschen diskriminiert werden

Übergewichtigen Menschen wird meist pauschal geraten, abzunehmen. Doch das ist oft sinnlos und kann zu einer medizinisch falschen Behandlung führen. Eine Diskriminierung von "Dicksein" mit Folgen.

SWR2 Wissen SWR2

Nacktheit in Gesellschaft und Kultur

Nackte Haut und Cancel Culture Nacktdarstellungen im Museum: Zwischen Pornografie und Emanzipation

Nackte Haut in der Kunst – was darf gezeigt werden, wo liegen die Grenzen der Freiheit? Eine Herausforderung für die Museen im Südwesten.

SWR Kultur am Mittag SWR Kultur

Körper Der Po – Nachdenken über ein Körperteil

Auf ihrer Fotoaustellung zum Thema "Der Po" hat Gudrun Holtz Stimmen eingesammelt über ein Körperteil, das man eher bei anderen sieht: Über Erotik, Schönheit, Schläge und Kunst.

SWR2 Leben SWR2

Vulva-Dialoge Die neue Öffentlichkeit für das weibliche Geschlecht

Frauen fehlen die Worte für „das da unten“ – wer sagt schon Vulva? Doch neuerdings wird sie besungen, von Künstler*innen in Szene gesetzt und zum Symbol im Kampf um Gleichberechtigung.

SWR2 Leben SWR2

Digitalisierte Kunst Warum Kunstwerke neuerdings auf Porno-Plattformen landen

Warum landet ein Audioguide zu klassischen Kunstwerken auf PornHub? Weshalb haben die Wiener Museen einen Kanal auf der Plattform OnlyFans? Weil die Algorithmen der sozialen Medien immer wieder Uploads von Kunstwerken löschen, wird nach alternativen Ausspielwegen für Kunst gesucht, die Nacktheit darstellt. Doch was steckt wirklich hinter den Kunstwerken auf Porno-Plattformen?

Julia Effertz koordiniert intime Filmszenen Küsse vor der Kamera

Julia Effertz ist die erste Intimitätskoordinatorin in der deutschen Filmbranche. Nach dem Me-Too-Skandal hofft sie auf einen Kulturwandel.

SWR2 Tandem SWR2

Sexueller Missbrauch und sexualisierte Gewalt

Gewalt Kindesmissbrauch in der Familie – Warum viele immer noch wegschauen

Kinder, die sexuelle Gewalt in der Familie erleben, sind ihr oft schutzlos ausgeliefert. Umso wichtiger ist, dass das Umfeld genau hinschaut und mutig handelt.

SWR2 Wissen SWR2

Kriminalität Kinderpornografie im Netz – Neue Dimension des sexuellen Missbrauchs

Missbrauchstäter fühlen sich in den Weiten des Internets zu sicher. Um sexuelle Gewalt an Kindern zu verhindern und aufzuklären, muss ihr Risiko steigen, entdeckt zu werden.

SWR2 Wissen SWR2

Gesellschaft Sexualisierte Gewalt im Sport – Wie Vereine Belästigung und Missbrauch verhindern

Viele Sportlerinnen und Sportler erleben sexualisierte Gewalt – oft durch Trainer, die auf Kumpel machen. Sportverbände sind sensibilisiert. Die meisten Vereine aber könnten viel mehr tun.

SWR2 Wissen SWR2

Stand
Autor/in
Elisa Buhrke
Onlinefassung
Candy Sauer