Die documenta ist eine der wichtigsten Kunstausstellungen weltweit. In Kassel war sie nicht immer beliebt. Auch die aktuelle documenta fifteen, die am 18. Juni 2022 öffnet, ist umstritten.
documenta fifteen: ungewöhnliches Konzept von Ruangrupa
Antisemitismusvorwürfe, abgesagte Veranstaltungen – die documenta fifteen stand auf der Kippe. Jetzt findet sie statt. Das Konzept von Ruangrupa ist neu und ungewöhnlich. Es geht ums Teilen, um Nachhaltigkeit und Kooperation.
Erste Documenta auf Ruinen im Jahr 1955
Die erste documenta entsteht 1955 als ein Begleitprogramm der Bundesgartenschau buchstäblich auf Ruinen. Inmitten des zerstörten Kassel wird das Fridericianum zur temporären Ausstellungshalle. Das Gebäude ist immer noch stark beschädigt, die Böden aus nacktem Beton und die Ziegelmauern unverputzt. Mit weißen und schwarzen Kunststofffolien werden Fenster abgedeckt und die dreckigen Ecken kaschiert.
Das Kasseler Publikum bekommt darin die große Kunst der Moderne zu sehen: Pablo Picasso, Marc Chagall, Paul Klee, Henry Moore und viele andere. Expressionismus und Abstraktion. Freie Farben und Formen. 147 Künstler werden gezeigt, nur sieben davon Frauen.
130.000 Menschen kommen 1955 nach Kassel, um freie Kunst zu sehen
Während des Nationalsozialismus galten diese Künstlerinnen und Künstler als entartet. Ihre Kunst: weggesperrt und verboten. Für viele junge Menschen ist die erste documenta damit auch die erste Berührung mit internationaler Kunst, die in Freiheit entstanden ist. Mehr als 130.000 Menschen kommen dafür nach Kassel.
![Bundespräsident Theodor Heuss (mit Zigarre) im Gespräch mit Professor Arnold Bode (links) vor einem Picasso-Gemälde beim Rundgang über die erste documenta im Fridericianum in Kassel am 16. September 1955 (Foto: dpa Bildfunk, picture-alliance/ dpa | Eberth) Bundespräsident Theodor Heuss (mit Zigarre) im Gespräch mit Professor Arnold Bode (links) vor einem Picasso-Gemälde beim Rundgang über die erste documenta im Fridericianum in Kassel am 16. September 1955](/wissen/1712915659984%2Cdocumenta-1-100~_v-16x9@2dS_-6be50a9c75559ca1aaf1d0b25bae287afdcd877a.jpg)
Heute weiß man: Von den 21 Personen, die im Arbeitsausschuss der ersten documenta waren, waren zehn in NSDAP, SA oder SS.
Kunsthistoriker der documenta war Mitglied der SA
In den Fokus der Forschung rückte Werner Haftmann, der sogenannte kunsthistorische "Kopf" der documenta. Haftmann war ebenfalls Mitglied der SA sowie der NSDAP und war an Kriegsverbrechen beteiligt. Trotzdem wird er in der jungen Bundesrepublik zum documenta-Mann und zum wichtigsten Fürsprecher für moderne Kunst, ebenfalls für die zweite Ausstellung der documenta im Jahr 1959.
![Werner Haftmann spricht während der Eröffnung der documenta 2 im Jahr 1959 in Kassel. Im Publikum vorn mit Brille der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn mit Gattin und rechts daneben der Initiator der documenta, Arnold Bode (Foto: dpa Bildfunk, picture-alliance/ dpa | Eberth) Werner Haftmann spricht während der Eröffnung der documenta 2 im Jahr 1959 in Kassel. Im Publikum vorn mit Brille der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn mit Gattin und rechts daneben der Initiator der documenta, Arnold Bode](/wissen/1712915575615%2Cwerner-haftmann-100~_v-16x9@2dS_-6be50a9c75559ca1aaf1d0b25bae287afdcd877a.jpg)
Die Wahrnehmung von Kunst bleibt in Deutschland trotz der Aufbruchsrhetorik der documenta-Leitung ziemlich eindimensional. Das ist besonders brisant, denn die documenta ist von Anfang an nicht irgendeine Ausstellung. Sie wirkt diskurs-bildend und politisch. Das heißt, sie legt fest, welche Kunst wichtig ist, welche Künstlerinnen und Künstler dazu gehören und welche nicht.
documenta-5-Kurator Harald Szeemann: Hauptsache subjektiv
1972 tritt der Kurator Harald Szeemann an, die fünfte Ausgabe der Ausstellung grundlegend zu verändern. Szeeman erfindet nicht nur die documenta neu, sondern vor allem auch den Beruf des Kurators. Anfang der 70er Jahre tritt er als Alleinherrscher auf und gestaltet die Ausstellung komplett nach seinem Gusto.
![Harald Szeemann, alleiniger Kurator der Documenta 5 im Jahr 1972 (Foto: IMAGO, IMAGO / Leemage) Harald Szeemann, alleiniger Kurator der Documenta 5 im Jahr 1972](/wissen/1712915575184%2Charald-szeemann-100~_v-16x9@2dS_-6be50a9c75559ca1aaf1d0b25bae287afdcd877a.jpg)
Szeemann plädiert für eine radikal subjektive Sichtweise auf die Kunst und sagt, dass die Auswahl im Grunde gar nicht nach demokratischen Gesichtspunkten getroffen werden kann. Im Kunstkontext sei nur eine subjektive Auswahl möglich.
Kasselaner meinen: Die aktuelle documenta ist immer die Schlimmste
Die Kasselaner müssen im Laufe der documenta immer wieder viel aushalten: Vor allem die Außenkunstwerke werden als hässlich und unkünstlerisch empfunden. Doch vor allem die aktuelle documenta sei immer die Schlimmste, so lautet auch historisch gesehen die häufige Einschätzung der Menschen in Kassel.
documenta 2022: jung, postkolonial, nachhaltig
Die aktuelle documenta im Jahr 2022 wird englisch ausgesprochen: "documenta fifteen". Und sie wird von einem zehnköpfigen Team kuratiert. Nicht länger soll ein einzelner Kurator subjektiv über den Kanon der Kunst entscheiden.
![Pressekonferenz in Kassel: Es ist das erste Mal in der Geschichte der documenta, dass die künstlerische Leitung einem Kollektiv - der Gruppe Ruangrupa - anvertraut wird (Foto: IMAGO, IMAGO / epd) Pressekonferenz in Kassel: Es ist das erste Mal in der Geschichte der documenta, dass die künstlerische Leitung einem Kollektiv - der Gruppe Ruangrupa - anvertraut wird](/wissen/1712915574398%2Cruangrupa-100~_v-16x9@2dS_-6be50a9c75559ca1aaf1d0b25bae287afdcd877a.jpg)
Das Kuratoren-Kollektiv Ruangrupa aus Jakarta hat einen Begriff für sein Kunstverständnis: Lumbung – im Indonesischen eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, die die Ernte für alle bereithält. Das soll die documenta fifteen sein.
Kritik aus der Szene: Agrarwirtschaft statt Weltkunst
Im Vorfeld hagelte es Kritik aus der Kunstszene: Ruangrupa betreibe Sozialromantik, hieß es, Gutmenschentum, willkürlich, unreflektiert, ohne eindeutige Haltung. Das Lumbung-Konzept sei laut Kritiken Agrarwissenschaft, aber kein Konzept für eine Weltkunstausstellung.
Ruangrupa haben Künstler und Künstlerinnen eingeladen, die häufig auch in Kollektiven arbeiten und vorwiegend aus dem globalen Süden stammen. Also aus Ländern und Kulturen, die bisher nur in Ausnahmen auf Ausstellungen in Europa und den USA zu sehen sind.
Bundesweiter Antisemitismus-Skandal vor der Eröffnung
Neben der Kunst von Kindern sind auch Kollektive und Initiativen aus Afrika, der Karibik und dem Nahen Osten eingeladen. Ein Internet-Blogger aus Kassel stellte den Vorwurf in den Raum, dass einzelne der Gruppen und Künstler dem anti-israelischen BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) nahestehen würden, ein Netzwerk, das zum Boykott israelischer Produkte aufruft und vom Bundestag als antisemitisch eingestuft wird.
Die documenta-Leitung bietet als Folge Gesprächsforen an, welche vom Zentralrat der Juden kritisiert und daraufhin wieder zurückgezogen werden. In einem öffentlichen Schreiben entschuldigt sich das Kuratoren-Kollektiv. Seitdem ist der Streit abgeflaut.
Fridericianum wird zur Schule
In vielerlei Hinsicht führen Ruangrupa künstlerische Konzepte vom Enfant terrible der documenta fort: von Joseph Beuys. Sie nehmen seine Aussage, jeder Mensch sei ein Künstler, ernst und setzten sie in Kassel um: Das Fridericianum wird eine Schule, Kinderkunstwerke werden ausgestellt und abgehängte Stadtviertel zum Ausstellungs- und Handlungsort.
![In der Karlsaue vor der Orangerie errichtet das Kuenstlerkollektiv "The Nest" aus Kenia einen Ausstellungsbau aus Altkleidern, hier soll auf das Problem der Entsorgung von Textilien und Elektromüll in die Länder des globalen Südens aufmerksam gemacht werden (Foto: IMAGO, IMAGO / epd) In der Karlsaue vor der Orangerie errichtet das Kuenstlerkollektiv "The Nest" aus Kenia einen Ausstellungsbau aus Altkleidern, hier soll auf das Problem der Entsorgung von Textilien und Elektromüll in die Länder des globalen Südens aufmerksam gemacht werden](/wissen/1712915574554%2Cdocumenta-fifteen-100~_v-16x9@2dS_-6be50a9c75559ca1aaf1d0b25bae287afdcd877a.jpg)
Ruangrupa schaut anders auf die Stadt als alle Kuratoren davor. Kunstkritiker und -expertinnen befürchten bereits das Ende der documenta. Vielleicht darf man aber einfach nur gespannt sein, was eine künstlerische Perspektive vom anderen Ende der Welt aus der deutschen Provinzstadt in den Kasseler Hügeln macht.
documenta: aktuelle Beiträge
Zeitwort 15.7.1955: Die Skulptur "Die Kniende" wird ausgestellt
Wilhelm Lehmbruck war eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Kunst der Moderne. Seine elegante Skulptur einer knienden Frau begeisterte die Besucher der ersten documenta.
Internationale Filmfestspiele Berlin Bären-Verleihung mit Palituch: Die Berlinale hat ihren Skandal
Die Preisverleihung bei der Berlinale wurde überschattet von Preisträgern, die antiisraelische Hassparolen formulierten und einem Publikum, das dazu schwieg. Das Filmfestival hat nun seinen Skandal wie die Documenta vor zwei Jahren, meint Filmkritiker Rüdiger Suchsland.
Diskussion Antisemitismus im Kulturbetrieb – Wer boykottiert wen?
Es rumort im Kulturbetrieb wegen der deutschen Haltung im Nahostkonflikt. Deutschland sei zu israelfreundlich und das wirke sich kunstfeindlich aus. Unter “Strike Germany“ rufen Kulturschaffende deshalb zum Boykott deutscher Kultureinrichtungen auf. Infolge des Skandals bei der Documenta kam es zu Rücktritten und zahlreichen Absagen. Wie bekämpft man Antisemitismus im Bereich der Kunst? Sind diesbezügliche Klauseln und Bekenntniszwang hinderlich? Was kann und sollte man in Deutschland erwarten? Findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt? Wie schlägt sich die Diskussion auf der Berlinale, den 74.Internationalen Filmfestspielen, nieder? Michael Köhler diskutiert mit Elke Buhr - Chefredakteurin Monopol Kunstmagazin, Berlin, Rüdiger Suchsland - Filmkritiker und Regisseur, Berlin, Prof. Dr. Mirjam Wenzel - Direktorin Jüdisches Museum Frankfurt am Main
Museum Was wird aus der documenta? Braucht die Weltkunstausstellung einen Neustart?
Er dürfte vielen noch in Erinnerung sein: der Antisemitismus-Skandal der letzten documenta in Kassel. Seitdem steht vieles bei der Weltkunstausstellung in Frage. Nun trat vor Kurzem sogar die komplette Findungskommission zurück, die eigentlich die künstlerische Leitung für die nächste documenta finden sollte. Darum ist jetzt auch fraglich, ob die 16. Ausgabe der Weltkunstschau überhaupt wie geplant 2027 stattfinden kann.
Ausstellung Wuchernde Collagen – Werke der Künstlerin Anna Oppermann in der Bundeskunsthalle Bonn
Feminismus, Macht, Ökonomie - Anna Oppermann hat viele Themen, die heute noch diskutiert werden, in ihren Kunstcollagen verarbeitet. In der Bundeskunsthalle kann man nun ihre rekonstruierten Werke sehen.
Documenta Documenta fifteen als Zäsur – Symposium in Kassel fordert Ende des Schwarz-Weiß-Denkens
Um die Wirkung der Documenta Fifteen in Kunst, Politik und Öffentlichkeit ging es an diesem Wochenende bei einer Tagung in Kassel. Nachdem am vergangenen Freitag die gesamte Findungskommission für die Documenta 16 zurückgetreten ist, sprach der Soziologe Heinz Bude in Kassel von der tiefsten Krise in der bisherigen Documenta – Geschichte. Die Documenta 15 habe gezeigt, wie verbreitet, vorsichtig formuliert, Israelfeindlichkeit in der Kunst – und Kulturszene zum Teil sei. Einig waren sich letztlich alle Teilnehmenden der Kasseler Konferenz: Das Schwarz – Weiß –Denken in der Kunst muss aufhören.
Krise der Weltkunstausstellung Rücktritt der documenta-Findungskommision – Kunst schon seit Jahren nicht mehr im Mittelpunkt
Es muss ein wirklicher Neuanfang her, sagt Journalist Ludger Fittkau, der seit Jahren über die documenta berichtet. Hintergrund sind die Rücktritte von zunächst zwei und dann allen Mitgliedern der Findungskommission für die Leitung der nächsten documenta. Ludger Fittkau ist der Ansicht: So etwas wie jetzt dürfe nicht passieren.
Dass man angesichts des Angriffs der Hamas, wieder Künstlerinnen und Künstler habe, die das Existenzrecht Israels nicht eindeutig bejahten, das könne nicht sein. Ergebnis sei: Es wird nicht über Kunst geredet in Kassel seit Monaten, seit Jahren nicht mehr, sondern immer über Strukturen, über Aufsichts- und Kontrollgremien. Und das sei fatal für eine Weltkunstausstellung
Joseph Beuys
Porträt zum 100. Geburtstag Joseph Beuys – Revolutionär der Kunst
Joseph Beuys polarisiert mit seiner Kunst: Manche feiern ihn als Visionär, andere belächeln Fett und Filz oder meinen, er verharmlose seine Vergangenheit. Was hat der Künstler verändert?
Neues von Beuys – 100 Jahre in 100 Sekunden Die Honigpumpe
173 Meter Schläuche und Röhren, 150 Kilo Honig und eine Pumpe made in Wangen — mit dieser Installation sorgte Joseph Beuys 1977 auf der Documenta 6 in Kassel für reichlich Gesprächsstoff. Mit der Honigpumpe wollte er die Bedeutung der Freien Universität als Motor für den gesellschaftlichen Blutkreislauf sichtbar machen.
Kunst
Gesellschaft Malerei aus der Psychiatrie – Wie die „Sammlung Prinzhorn“ die Kunst beeinflusst hat
Einst von den Nazis geächtet, ist die Sammlung Prinzhorn heute weltbekannt. Seit 100 Jahren zeigt sie Kunstwerke von psychisch kranken Menschen und ändert unseren Blick auf sie.
Porträt zum 50. Todestag Pablo Picasso und sein Frauenbild
Pablo Picasso gilt als Jahrhundertkünstler und Erfinder des Kubismus. Doch 50 Jahre nach seinem Tod rütteln Feministinnen am Sockel des berühmten Spaniers.