Donaueschinger Musiktage | Werke des Jahres 2022

Arnulf Hermann: Ein Kinderlied (Dämonen)

Stand

Werkkommentar von Arnulf Hermann

Eine schwankende Kammer der Erinnerung

Ein Kinderlied, eine alte Schallplatte, Stimmen: Es ist eine – nicht nur für Kinder – einschläfernde und hypnotische Wirkung, die von Wiegenliedern ausgeht. In den Klängen bewahren sich Erinnerungen, Bilder, aber auch Halbdunkles, Verschüttetes, unscharf, verformt und umgeschrieben. Denn es gibt eine Kehrseite jenseits der Geborgenheit: So ist der Sandmann, als vermeintlich harmloses Sandmännchen im Lied besungen, gleichzeitig die Figur, die den Kindern bei E.T.A. Hoffmann die Augen stiehlt.

Musikalisches Zentrum ist das tranceartige "Schlafe" des Kinderliedes, Beruhigung und dringende Aufforderung in Einem. Es verselbstständigt sich im Verlauf des Stückes und dreht am Ende manisch seine Runden: "Schlafe, schlafe, schlaf‘ du, mein Kindelein..."; der Verstand beginnt zu dämmern, die Dämonen schälen sich aus dem Halbdunkel.

Die berühmte Liedmelodie hat sich im Laufe ihrer Geschichte vielfach gehäutet und verwandelt: vom ursprünglich frivol-erotischen französischen Chanson Une petite feste aus dem 16. Jahrhundert, über die Umdichtung und "Entgiftung" der sehr populären Melodie durch den Jesuitenpater Friedrich von Spee ins Weihnachtslied Zu Bethlehem geboren im 17. Jahrhundert, bis hin zu Zuccalmaglios fiktivem Volks- und Wiegenlied Die Blümelein sie schlafen im 19. Jahrhundert. Aber ungeachtet aller Verwandlung: Es bleiben Sedimente und Ablagerungen der Geschichte als Reste, die – wenn auch nicht mehr an der Oberfläche – im Lied aufgehoben und gespeichert sind.

Als Speicher fungiert auch die den Rahmen gebende Schallplatte. Auf ihr sind weißes Rauschen und historische Liedfragmente eingeschrieben. Die Schallplatte ist verwoben mit dem Orchester, das die Musik in den Raum projiziert, begleitet von sich langsam drehenden Lautsprechern. Nicht zuletzt liefert sie auch den zeitlichen Rahmen durch die Beschränkung auf die Dauer einer einzelnen Schallplattenseite. Doch das Ende ist nur technisch: Die Nadel hebt sich, das Lied aber ist nicht vorbei.

Sandmännchen (Die Blümelein sie schlafen)
Melodie: Anonym
Komposition: Johannes Brahms
Text: Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio

Unter Verwendung einer Aufnahme von 1943, gesungen von Annemay und Heinrich Schlusnus. Sebastian Peschko, Klavier

Anmerkung: Die drehenden Lautsprecher gehen zurück auf frühere, installative Arbeiten von Jürgen Martin, der für die Klangregie von Ein Kinderlied verantwortlich ist. Wir haben sie hier, im Rahmen unserer gemeinsamen Arbeit, als wichtigen Baustein integriert.

English

A wavering chamber of memory

A nursery rhyme, an old record, voices: There is a soporific and hypnotic effect – not only for children – that emanates from lullabies. Memories, images, but also the semidarkness, the buried, blurred, deformed and rewritten are preserved in the sounds. For there is a flip side beyond the security: Thus the sandman, sung about as a supposedly harmless little sandman in the song, is at the same time the figure who steals the children’s eyes in E.T.A. Hoffmann.

The musical center is the trance-like "Schlafe" ("Sleep") of the children’s song, calming and urgent request in one. It takes on a life of its own in the course of the piece and manically makes its rounds at the end: "Schlafe, schlafe, schlaf’ du, mein Kindelein..." ("Sleep, sleep, sleep, little child..."); the mind begins to dawn, the demons peel out of the semidarkness.

The famous carol melody has been skinned and transformed many times in the course of its history: from the originally frivolous and erotic French chanson Une petite feste from the 16th century, to the rewriting and "detoxification" of the very popular melody by the Jesuit priest Friedrich von Spee into the Christmas carol Zu Bethlehem geboren in the 17th century, to Zuccalmaglio’s fictional folksong and lullaby Die Blümelein sie schlafen in the 19th century. But regardless of all the transformation: Sediments and deposits of history remain as remnants, which – even if no longer on the surface – are kept and stored in the song.

The record that provides the framework also functions as a memory. White noise and historical song fragments are inscribed on it. The record is interwoven with the orchestra that projects the music into the room, accompanied by slowly rotating loudspeakers. Last but not least, it also provides the temporal framework by limiting the duration to a single record side. But the end is only technical: The needle lifts, but the song is not over.

Sandmännchen (Die Blümelein sie schlafen)
Melody: Anonymous
Composition: Johannes Brahms
Lyrics: Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio

Using a recording from 1943, sung by Annemay and Heinrich Schlusnus. Sebastian Peschko, piano

Note: The rotating loudspeakers go back to earlier, installative works by Jürgen Martin, who is responsible for the sound direction of Ein Kinderlied. We have integrated them here, in the context of our joint work, as an important component.

Stand
Autor/in
SWR