nach Motiven der Novelle Frühling von Thomas Lehr
Panorama handelt von den letzten 11 Sekunden im Leben eines Menschen. Dieser Mensch ist nicht das Opfer eines Unfalls, sondern er hat sich gerade selbst getötet. Die 11 Sekunden sind genau der Zeitrahmen, der ihm noch bleibt, die Vorgeschichte dieser Selbsttötung für sich noch einmal zu rekonstruieren und aufzuarbeiten.
Was mich an der Novelle Frühling von Thomas Lehr von Anbeginn an fasziniert hat, war der Umgang mit Zeit:
Zum einen gibt es die streng gemessene – absolute – Zeit, die 11 Sekunden (in der Vorlage: 39), in denen die Handlung spielt. Zweitens ist die seitens des Protagonisten wahrgenommene Zeit zu nennen: Durch die ungeheure Erlebnis- und Wahrnehmungsdichte dieser wenigen Augenblicke erscheinen sie für ihn ohne jedes Maß gedehnt. Und drittens schließlich gibt es eine historische Tiefenstaffelung der Ereignisse aus der Biographie des Erzählers: Zeitlich am nächsten ist die unmittelbar vorher geschehene Erschießung. Anfangs erkennt der Protagonist sie nur als vage geometrische Szenerie. Erst allmählich gewinnen die beschriebenen Objekte für ihn wieder ihre ursprüngliche Bedeutung.
Auf dem Weg der Rekonstruktion dieser Naherinnerung wird auch die Vorgeschichte der Selbsttötung rekonstruiert. Sie setzt sich zusammen aus weit in der Biografie verstreuten Ereignissen, den neuralgischen Punkten und Motiven seines Lebens. Erklärungen für die Selbsttötung, die am Ende dieses Lebens steht, werden hier angedeutet.
Die Leinwand, die ganze Bühne funktioniert hierbei wie ein Blick in das Innere des Kopfes des Protagonisten. Wir sind Betrachter einer Innenwelt, haben Teil am Zusammensetzen des Puzzles, der allmählichen Klärung der Gedanken, den verschiedenen Stadien der Annäherung an völlig verschachtelte, zeitlich ungeordnete Ereignisse und Visionen.
Thematisiert wurde außerdem die Arbeitsform im Rahmen dieses Projektes. Ausdrückliches Ziel von mir war eine Zusammenarbeit mit Video, Bühnenbild und Licht schon in einem frühen Stadium, um die Möglichkeit zu schaffen, dass die verschiedenen Medien bereits im Entstehungsprozess aufeinander reagieren können.
Fast alles geschieht in Echtzeit, im Augenblick der Aufführung. Vorproduziertes Material (in Ton und Bild) kommt nur sehr wenig zum Einsatz. Dies ist allerdings keine grundsätzliche ästhetische Position, sondern es hat sich so entwickelt.
Die vorliegende Textfassung habe ich selbst erstellt. Thomas Lehr möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich für seine Offenheit und sein Interesse an diesem Projekt danken.
- Festivaljahrgänge
- Donaueschinger Musiktage 2003
- Themen in diesem Beitrag
- Arnulf Herrmann, Panorama für Ensemble, Live-Elektronik, Schauspieler und interaktives Video
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