Gedichte für den Endzeitmodus – in den dunkelsten Farben, die die Sprache in petto hat. Man kann Sibylle Berg für ihren fiesen Ton lieben. Aber leider überzeugt hier sprachlich nur ein Teil der Gedichte.
Ja – try praying – versuch doch, zu beten, spottet Sibylle Berg. Es ist sozusagen das Letzte, was wir noch tun können im Endzeitmodus, den sie seit Jahren schon in ihren Werken nachzeichnet: Klimakatastrophe, Terror, Wirtschaftskrise, digitale Überwachung. Ihre Gebete dieses Mal: Gedichte.
Wir kennen das: Bei Frau Berg wird gegähnt, geschuftet, gehasst, gestorben, getötet – in den dunkelsten Farben, die die Sprache in petto hat.
Für ihren fiesen Ton kann man sie lieben
Mit ihren Figuren hat sie kein Erbarmen. Das ist auch in ihrer Lyrik nicht anders. Da überfährt die Tram die trauernde Witwe, der Freund wird im Schrank gefesselt
oder eine frustrierte Person gibt sich Gewaltfantasien hin:
Für ihren fiesen Ton kann man Sibylle Berg lieben. Der hat etwas Schroffes, Echtes, auch erschreckend Welterkennendes. Die erzählerische Wucht, die ihr auf Romanlänge gelingt, funktioniert in ihrer Lyrik allerdings mäßig. Hier fehlt ihr offenbar der Raum, entscheidenden Kontext oder Atmosphäre mitzuliefern, was uns beim Lesen helfen könnte, ihr zu folgen. Vielleicht ist auch das formale Korsett schlichtweg zu eng für sie. Das liest sich wie eine ereignislose Fahrt im Pointen-Karussell. Nur manchmal springt ein Funke über. Etwa beim „Trennungsgedicht“:
Im Kreis der liebenswerten Looser
Es sind gescheiterte, durchweg einsame Gestalten, die diese Gedichte bewohnen. Vom abgestumpften Pflegepersonal, über ausgebrannte Mitarbeiter digitaler Großkonzerne, bis hin zum vergessenen Angelshop-Verkäufer. Einmal bringt Berg es einfach, aber treffend auf den Punkt: „Menschen mit dem Menschenmist“.
Und das könnte eine wunderbare Erkenntnis aus dieser Lektüre sein – im Prinzip ohnehin der Schlüssel zum Werk Sibylle Bergs: Wir alle fühlen uns mitgemeint in diesem Kreis der liebenswerten Loser. Doch die Gedichte lassen einen bedauerlicherweise eher kalt. Und so wirkt der letzte Eintrag, der Hidden Track, dann auch eher wie eine Selbstoffenbarung mit Mittelfinger:
Sprachlich überzeugt nur ein Teil der Gedichte
Die Ausbeute ist mau: Unter den 40 Gedichten sind höchstens eine Hand voll wirklich gelungen. Mitunter sind die Beiträge sprachlich so gar nicht auf Bergs eigentlichem Niveau: ungelenke Sätze, schiefe Reime, eintöniges Vokabular. Fast könnte man meinen, sie will die Gattung Lyrik als solche ironisieren. Schade eigentlich.
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