Buchkritik

Thomas Meinecke – Odenwald

Stand
Autor/in
Carsten Otte
SWR Kultur Literaturkritiker Carsten Otte

Amorbach war für den Philosophen Theodor W. Adorno ein wichtiger Kindheits- und Sehnsuchtsort. Für Thomas Meinecke ist das Odenwald-Städtchen ein Aufhänger für längliche Recherchen, die sich mit adligen Jagdgesellschaften, kolonialen Verbrechen, Mode, Mythen und Märchen, Jazz und Gendertheorie befasst.

Malwida und Walter, die von der Erzählstimme zu Beginn des Buchs als zwei „Forschende“ vorgestellt werden, sind nach „kurvenreicher Autofahrt durch den badischen, hessischen und bayerischen Odenwald“ im kleinen Örtchen Amorbach angekommen. Etwas erschöpft sind die beiden, doch längst nicht zu müde, um sich im Vokabular der gehobenen Modesoziologie darüber auszutauschen, „was der Unterschied zwischen einem Romper und einem Jumpsuit sei“.

Kleider- und Körperdiskurse sind in Thomas Meinekes Werk ohnehin sehr wichtig, genau wie lange Zitate aus philosophischen, literarischen oder sonst irgendwie theoretischen Werken. Nach einer kurzen Foto-Session in Amorbach wird dann auch Theodor W. Adorno zitiert, für den das Städtchen, das er als kleiner Junge erlebte, zeitlebens ein Sehnsuchtsort blieb.  

Trieb ich halbwüchsig allein durch das Städtchen im tiefen Abend, so hörte ich auf dem Kopfsteinpflaster die eigenen Schritte nachhallen. Das Geräusch erkannte ich erst wieder, als ich, 1949 aus der amerikanischen Emigration zurückgekehrt, um zwei Uhr nachts durchs nächtliche Paris vom Quai Voltaire in mein Hotel ging. Der Unterschied zwischen Amorbach und Paris ist geringer als der zwischen Paris und New York.

Selbstreflexiver Recherchestil

In „Odenwald“ bleibt Thomas Meinecke sich und seinem selbstreflexiven Recherchestil treu. Kaum eine Seite kommt ohne Verweis auf Vergangenes aus, doch oft bleibt der Erkenntnisgewinn gering. Die Ästhetik der Collage, die mal als Avantgarde galt, wirkt hier seltsam altmodisch.

Nach wenigen Seiten hat man das Bauprinzip verstanden; der Mix aus schon mal Gedachtem und allerlei Zitaten aus dem eigenen Werk beginnt bald zu langweilen. Kaum war von Paris und New York die Rede, meldet sich Malwida zu Wort, die den Autor Meinecke höchstselbst als Roman- und literarische Denkfigur einführt.

Sitzt Thomas denn nun eigentlich endlich mal an seinem Paris-Roman, mit dem er uns seit Jahren in den Ohren liegt? Du weißt schon: Das illuminierte Paris als die vorderste Quelle unserer Pop-Moderne, Charles Baudelaire (seine Ode An eine Passantin, seine Lobrede auf die Schminke), die hehre, beinahe heilige Künstlichkeit, GEMACHTHEIT, logisch die urban zelebrierte Anonymität, nicht zuletzt durch den aus den USA zugereisten Edgar Allan Poe (Der Mann in der Menge), des Deutschen Walter Benjamins produktive Lektüre, vor Ort, der flaneuristischen Elaborate Baudelaires, dessen Lyrik er schon in Berlin übersetzt hatte (noch mal Jahrzehnte zuvor gab es bereits die Baudelaire-Exegese des späten Friedrich Nietzsche, ebenfalls extrem aufgeregt und hochinteressant, womöglich schon verschattet, im Ansatz umnachtet; erleuchtet, meint Thomas) …

Name-Dropping im Nicht-Roman

So zermürbend das ständige Namedropping in Meineckes Nicht-Roman ist, so lieblos werden touristische und kulturhistorische Gegebenheiten abgehakt. Vom Amorbacher Hotel zur Post, in dem Adorno einst logierte, geht es weiter über die lokale Metzgerei Hauck bis zum barocken Fürstenschloss, in dem die Adelsfamilie von Leiningen bis heute residiert.

Mit einem Verweis auf Wikipedia werden einige Anekdoten aus der Geschichte des Fürstenhauses erzählt. Für den in postkolonialer Analyse versierten Schriftsteller ist es dabei wichtig zu erwähnen, dass Viktor von Leiningen 1842 nach Texas fuhr, „um die dortigen Konditionen für eine deutsche Kolonisierung zu erkunden.“ Geschichte und Geschichten, folgt man Meinecke, sind im Odenwald sehr gegenwärtig. Also werden adlige Jagdgesellschaften beschrieben, die in den Amorbacher Wäldern lange Zeit ihr Unwesen trieben.

Eine klassische Handlung gibt es in „Odenwald“ nicht. Eine Figurenentwicklung auch nicht. Malwida, die eine intellektuelle Sprechpuppe ist, darf ein paar hochtrabende Fragen stellen.

Wenn das Verfahren des Romans in gendertheoretischer Hinsicht nicht subversiv ist, wie ist dann das Kleiderverhalten seiner Figuren zu bewerten?

Doch nur eine Parodie?

Die Erzählhaltung dieser Diskursprosa ist auf so modische Weise hyperkorrekt, dass man sich fragt, ob es sich bei „Odenwald“ vielleicht um eine mittelmäßige Parodie der zitierten Theoriefetzen handelt. Malwida und Walter scheinen jedenfalls in einer bizarren Bubble zu leben, in der man grundsätzlich einer und stets der richtigen Meinung ist. So geht es gemeinsam gegen Adorno, der seine Thesen zum Jazz angeblich in „gleichsam dialektischer Allianz mit den Nazis“ formuliert habe.

Man mag Adornos zum Teil herablassende Ausführungen zum Jazz nicht folgen, eine gedankliche Nähe kritischer Theorie mit völkischen Hasstiraden gegen das vermeintlich „Entartete“ herzustellen, ist völlig abwegig. Passend zum intellektuellen Zeitgeist werden in „Odenwald“ allerdings die Thesen der umstrittenen Philosophin Judith Butler gefeiert. Aus deren Gendertheorie meint Thomas Meinecke die Formprinzipien für die eigene Prosa ableiten zu können.

Da im Butler’schen Ansatz nichts mehr als fixe Konstante des Subjekts gelten kann, weiß sich die Person als Zeichenträger theoretisch auch eigenständig geschlechtlich zu signifizieren und das Biologische hinter sich zu lassen. (…) Statt im heteronormativen Ambivalenzkorsett zu verharren, gilt es, die Identität als Praxis, und zwar als Bezeichnungspraxis (Butler) zu begreifen, wie es auch Meinecke zitativ als Methode in seinem Roman Lookalikes operationalisiert.

Konzeptliteratur, die nicht aufgeht

Statt über Seiten hinweg zitativ zu operationalisieren, wäre es gewiss interessanter gewesen zu erfahren, was Meinecke zu den umstrittenen Ausführungen seines Vorbilds über den mörderischen Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel zu sagen hat. Butler hatte den genozidalen Feldzug der Terrorgruppe zu einem Akt des palästinensischen Widerstands verklärt und damit weltweit für Diskussionen gesorgt.

Dem Butler-Fan Meinecke ist das nicht einmal eine Randbemerkung wert, stattdessen verweist er auf das Kuriosum, dass ausgerechnet an jenem 7. Oktober in Amorbach eine Gedenktafel zu Ehren Adornos enthüllt wurde, „während in Israel das bestialische Pogrom der HAMAS gegen die jüdische Zivilbevölkerung tobte.“ An Stellen wie diesen wird deutlich, dass Meineckes Konzept, historische Ereignisse mal kurz zu erwähnen, um dann wieder mit einem anderen Thema fortzufahren, nicht für gedankliche Tiefe sorgt.

„Odenwald“ scheint für eine intellektuelle Sekte geschrieben zu sein, für Fans des literarischen Stückwerks, in dem allerlei Häppchen verarbeitet werden, die für den gehobenen Partytalk bestimmt dienlich sind.   

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