Buchkritik

Sibylle Berg - RCE. #RemoteCodeExecution

Stand
Autor/in
Alexander Wasner

Der Papst, Elon Musk, Bill Gates und sogar die Hohenzollern kämpfen gemeinsam gegen das Glück der Menschheit. Aber die Jugend wehrt sich. So ungefähr ist die Bedrohungslage in Sibylle Bergs neuem Roman „RCE“. Übersetzt heißt das: Remote Code Execution, also ferngesteuerte Programmausführung auf Computern.

Sibylle Berg ist als Autorin und Kolumnistin bekannt geworden. Vor drei Jahren hat sie mit dem Roman „GRM“ den ersten Teil einer Trilogie veröffentlicht. „RCE“ ist der zweite Teil.

„RCE“ ist noch ein Stückchen böser als „GRM“, der erste Teil der Trilogie

Sibylle Bergs neuer Roman ist ähnlich umfangreich wie ihr vorheriger, „GRM“. 700 Seiten. Man kann die beiden Bücher, denen wohl noch ein dritter Roman folgt, kaum getrennt sehen.

Deswegen mal kurz rekapituliert: „GRM“ erzählte von ein paar Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen, die sich in London so geschickt wie wütend gegen die soziale, ökologische, Katastrophe stemmen. „GRM“ war eine Abkürzung für Grime – ein Musikstil, sehr wütend, sehr laut.

Viele Personen kennt man schon aus dem ersten Teil, vielleicht verzichtet Sibylle Berg deshalb in „RCE“ weitgehend auf Charakterisierungen und verlegt sich noch stärker auf die Schwächen der Welt. Das macht den Roman noch ein Stückchen böser als den ersten Teil.

„RCE“, das ist das, was man früher mal eine Philippika genannt hat, und heute Rant nennt

„RCE“, das ist das, was man früher mal eine Philippika genannt hat, und heute Rant nennt – eine Brandrede, wie sie Demosthenes oder Cicero hielten, wenn Gefahr im Verzug war, meistens brachten die Reden allerdings wenig. Trotzdem: Man durfte dabei rhetorisch alle Register ziehen. Und genau das tut Sibylle Berg.

„Einen Halt gab es nicht mehr für die Leute am Rand der sich öffnenden Böden. Sie taumelten, strauchelten, schrien Befehle in ihre smarten Geräte, wenigstens jemandem etwas befehlen. „Hauptsache Arbeit“, stöhnten sie und schleppten sich in Großraumbüros, in denen sie beschäftigt wurden, mit der Programmierung dessen, was sie unnütz machen würde. … Man bräuchte einen Neustart. Aber wer sollte das tun? Und was sollte danach kommen? Wogegen sollte man sein und kämpfen und anschreien?“
(Sibylle Berg: RCE. #RemoteCodeExecution)

Es geht um oben und unten, um das, was die Gesellschaft zerreißt

Ganz schön viele Fragen für eine allwissende Erzählerin. Die Stimme erinnert trotzdem sehr an den Tonfall der Kolumnen von Sibylle Berg, Nein, es kommt keiner gut weg. Verlierer sind wir alle unterhalb der Gewichtsklasse 100 Millionen Euro Vermögen. Es geht um oben und unten, um das, was die Gesellschaft zerreißt, während sie Diversitätsdiskussionen führt. 700 Seiten lang.

Und es gibt auch einen, naja, Plot. Der hat so eine ähnliche Funktion wie in den Romanen von Michael Crichton oder Frank Schätzing: Man nimmt eine Weltbedrohung, eine Verschwörung oder so und erzählt dann einen Countdown, irgendetwas unabänderlich auf uns zu Rollendes.

Trailer Sibylle Berg | RCE #RemoteCodeExecution ist die Fortsetzung von GRM Brainf**k

Klimakatastrophe, Bankenkollaps, Totalüberwachung - und Menschen, die Insektenburger essen

Bei Sibylle Berg ist es ein Fünf-Jahres-Plan zum Umsturz. Alles also viel größer als im vorherigen Roman „GRM“. Statt um London geht es jetzt um die ganze Welt, die sich zwischen Klimakatastrophe, Bankenkollaps und Totalüberwachung zerreißt und in der die Menschen Insektenburger essen müssen.

„Jeder hier hatte doch eine Wut, weil - sie sahen, dass die Erde brannte oder ihre Zukunft auf dem Mars oder in einem neoliberalen Versuchslabor stattfinden würde. Sie waren sicher, das Richtige zu denken, zu tun, wie alle Menschen.“
(Sibylle Berg: RCE. #RemoteCodeExecution)

Es geht um einen Riesenhack, ein neues Programm: RCE, Remote Code Execution – also ferngesteuerte Programmausführung auf digitalen Endgeräten. Damit lässt sich viel Unfug anstellen. Vor allem, wenn man – wie gesagt: das Buch ist eine Philippika - Fairness auch erzählerisch nicht mehr als Wert ansieht.

Den positiv gezeichneten Helden steht eine Allianz von Papst, Hohenzollern, Altnazis und Techgiganten gegenüber

Wer um sein Leben kämpft, darf alles. Falschmeldungen verbreiten, sich in laufende Fernsehprogramme und auf Nachrichtenseiten einhacken, gefälschte Videos in Umlauf bringen. Das machen die positiv gezeichneten Helden – während ihnen eine Allianz von Papst, Hohenzollern, Altnazis und Techgiganten gegenübersteht.

Die einen versuchen, die Massen zu manipulieren, die anderen werden durch Fernsehen, Games und soziale Medien systematisch verblödet. Wie das geschieht, ist vielleicht der spannendste Aspekt des Romans. Denn Sibylle Berg scheint mehr Aufwand in die Recherche als in die literarische Gestaltung gesteckt zu haben.

Man staunt über die Unmengen an Indizien, die das Buch auffährt, um die ethische Gesamtwurschtigkeit des Kapitalismus zu beweisen. Da werden Überseekabel beschrieben, mit denen Google angeblich die Netzstabilität verbessern will – und in Wirklichkeit Europa von Amerika abhängig macht. Es gibt sie.

Da tragen Mitarbeiter von Amazon-Jobs Windeln, weil sie keine Zeit für die Toilettenpause haben. Das gibt es auch. Da werden privatisierte Gefängnisse von 3D-Druckern irgendwo in die Landschaft gespritzt. Das konnte ich jetzt auf die Schnelle nicht finden, ist aber vielleicht irgendwann möglich.

Zwei Dinge gibt es zu diesem „Roman“ zu sagen:

Erstens:  Ab ca. Seite 400 wurde mir einfach zu viel geschimpft und gemäkelt, und es waren gar keine Personen mehr spürbar, sondern nur noch die miesepetrige Erzählerinnenstimme. Und nicht nur ich hatte scheinbar einen Hänger. Denn es sind hanebüchene Fehler im Buch. Sätze doppelt, Worte fehlen, Zeiten sind falsch gesetzt, aus „abgeschafft“ wird „angeschafft“, aus „Nerd“ „Neid“ – man merkt, der Gestus der Dauerempörung ermüdet jede Korrekturleserin und die Autorin wahrscheinlich auch.

Und zweitens, das ist der interessantere Eindruck, wirkt der Roman schon beim Erscheinen aus der Zeit gefallen. Denn diese apokalyptische Philippika wird von der aktuellen Nachrichtenlage gerade stark wirkungsgehemmt.

Das Buch erscheint natürlich in die Klimakatastrophe und eine sich anbahnende Wirtschaftskrise hinein, aber halt viel bewusster noch in die Pandemie und einen Krieg. Beides Angelegenheiten, die keine Rolle im Roman spielen. „RCE“ ist eher ein Weckruf an Fridays for Future, dass sich die Ökologie nicht von der sozialen Frage ablösen lässt. Und genau das macht Sibylle Berg trotzdem zu einer der wichtigen deutschsprachigen Autorinnen, besonders für jüngere Leser*innen.

„Einige Menschen diskutieren seit Stunden darüber, ob sie einen Stein werfen sollen“

Sibylle Berg, ich lege mich da mal fest: Diese Erzählstimmstimme hat einen Namen, ist schlecht gelaunt. Wütend. Zornig. Aber es gibt, anders als zum Beispiel in vielen Romanen bei Michel Houellebecq, etwas zum Hoffen, ein Ziel. Nicht jede menschliche Regung ist verderbt. Stattdessen gibt es eine Möglichkeit des Innehaltens. Und die ist fast christlich. Gegen Ende sind die Schurken gewichen, und die Menschen stehen rum, und dann heißt es, und das ist mein Lieblingssatz:

„Einige Menschen diskutieren seit Stunden darüber, ob sie einen Stein werfen sollen“.
(Sibylle Berg: RCE. #RemoteCodeExecution)

Manchmal ist, wer schwarzsieht, in Wirklichkeit ganz schön hellsichtig.

Hier zieht sich Sibylle Bergs Weltbeschimpfung ins Rhetorische zurück, das kommunikative Handeln wird wieder ins Recht gesetzt. Reden ist mindestens Silber. Und Hoffen ist Gold.

„Dieses Morgen. Wenn alles von vorne beginnt. Aber vielleicht wird es dieses Mal besser.“ 
(Sibylle Berg: RCE. #RemoteCodeExecution)

Das sind die letzten Worte des Romans. Wie die handlungsmäßig motiviert sind, wird nicht verraten. Aber dafür das Buch als Brandrede empfohlen. Trotz der sprachlich manchmal ärgerlichen Schlampigkeit und trotz der gerade verrückten Weltlage. Denn manchmal ist, wer schwarzsieht, in Wirklichkeit ganz schön hellsichtig.

Buchkritik Sibylle Berg - "Nerds retten die Welt: Gespräche mit denen, die es wissen"

„Nerds retten die Welt“ – zumindest versuchen sie es: im Gespräch mit Sibylle Berg.
Rezension von Carolin Courts.

Verlag Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3462054606
329 Seiten
22 Euro

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