Die Selbsthilfeindustrie boomt. Kein Bereich des Lebens bleibt von Ratschlägen verschont – ob es um bessere Ernährung, das ewige Leben oder die große Liebe geht. Liv Strömquist seziert in ihrem neuen Comic „Das Orakel spricht“ unsere postmoderne Suche nach Struktur und Sinn im Leben.
Scrollen Sie mal einen Tag durch Instagram oder TikTok! Oder stöbern Sie in dieser einen Ecke der Buchhandlung mit den bunten Covern und den markigen Sätzen, sie kennen sie sicher. Sie werden glücklich sein. Denn offensichtlich ist alles möglich.
Ob das nun Erfolg im Beruf ist, der Traumpartner oder ein langes, gesundes Leben inklusive Marathon mit 87. Mit diesen zwölf Schritten, jenen neun Lebensmitteln – Stichwort Kurkuma! – oder mit ein bisschen Selbstdisziplin, natürlich. Übrigens, klicken Sie mal auf diesen Link, da sind die entsprechenden Tipps zu kaufen. Zum Sonderangebot!
Die Comicautorin Liv Strömquist ist fasziniert von dieser Kultur der Selbstoptimierung. Strömquist meint im Gespräch:
Kein Drehbuch mehr fürs Leben
In ihrem neuen Comicband „Das Orakel spricht“ geht Liv Strömquist auf knapp 250 Seiten vielen Beispielen nach. Zum Beispiel den Fitness-Tracker, die den Schlaf, das Cholesterin und den Blutdruck messen – und uns damit vorgaukeln, mit den richtigen Werten wären wir unsterblich.
Oder den frauenfeindlichen Influencern der Manosphere, die überzeugt sind, ihre Alpha-Männer-Techniken würden sie unverletzlich in der Liebe machen. All die Dinge also, die uns glauben lassen, Leid, Tod und Schmerzen ließen sich mit ein bisschen Anstrengung und Planung aus dem Leben verbannen. Willkommen in der Postmoderne!
Liv Strömquist sagt: „Die Zeit, in der wir leben, ist eine, die dem Ich viel abverlangt, denn das Ich muss ständig Entscheidungen treffen und die besten Entscheidungen treffen: Wer bin ich? Bin ich glücklich? Gibt es vielleicht etwas anderes, das mich glücklicher macht? Man hat nicht mehr wirklich ein Drehbuch dafür, wie man sein Leben leben soll. Deshalb die ständige Selbstbeobachtung, und das ist etwas, das wir viel mehr tun muss als frühere Generationen."
Doch „Das Orakel spricht“ wäre kein typischer Liv Strömquist-Comic, wenn er bei der Diagnose stehenbliebe. Auf der Suche nach Antworten rührt Strömquist in sieben Kapiteln alle möglichen Ansätze zusammen. Philosophinnen wie Eva Illouz kommen zu Wort oder Soziologen wie Hartmut Rosa.
Aber Strömquist greift auch auf die heilige Katharina von Siena, den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan oder antike Mythen zurück. Wer auch immer etwas zum Thema zu sagen hat. So sagt Strömquist: „Ich arbeite sehr intuitiv, das habe ich schon immer so gemacht. Wenn ich das Gefühl habe: ,Oh mein Gott, das ist so interessant', dann qualifiziert das eine Theorie dafür, in das Buch aufgenommen zu werden. Es muss also etwas Unerwartetes sein. Etwas, das mich aufregt und glücklich macht."
Der Ratschlag wird zur Ware
Wie eben das titelgebende Orakel von Delphi, für die Autorin die Urmutter aller Ratgeber und Influencer. Das Orakel war, soweit lässt sich archäologisch belegen, wohl berauscht von den giftigen Dämpfen aus einer Erdspalte, über der sein Tempel gebaut war.
Strömquist meint: „Das Orakel von Delphi antwortete in einer Art Rätsel, denn es war high. Also sagte sie etwas, das sehr offen für Interpretationen war. Und das kann besser sein als ein Rat, der sehr konkret ist, der ist autoritärer. Die Person, die ihn bekommt, hat nicht viel Spielraum, für ihre eigene Perspektive, also den Rat so umzusetzen, wie es für sie Sinn macht.
Im Ratgeber kreuzen sich bei Strömquist postmoderne Steuerungs-Fantasien und kapitalistische Verwertungslogik. Der Selfhelp-Guru ist die Figur der Stunde, ob es dabei um den richtigen Schlaf, die beste Ernährung oder Erziehung oder das Liebesleben geht. Die vermeintlichen Aufstiegsgeschichten der Gurus sind ihre Ware. Und gleichzeitig, so seziert Strömquist, die moralische Legitimation für den eigenen Reichtum, die eigenen Privilegien.
Denn dass die Welt möglicherweise ungerecht, planlos, willkürlich sein könnte – diesem Horror müssen wir mit Anstrengung und Leistung begegnen. Etwas, von dem Liv Strömquist wundersamerweise verschont geblieben zu sein scheint: „Den Menschen wird oft gesagt, sie sollten sich Ziele setzen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht ein Ziel gehabt. Ich hatte nie das Ziel, Comiczeichnerin oder so etwas zu werden.
Kreativität als Ausbruch
Strömquist unterwandert mit ihren bunten Panels jeden Anspruch auf Wahrheit oder Autorität, den ihre Figuren vermarkten. Text und Bild sind lustvoll skeptisch gegenüber dem, was sie zeigen. Dabei sei sie keine begnadete Zeichnerin, gibt Strömquist unumwunden zu. Auch diese Geschichte erzählt sie mit zweidimensionalen, flächigen Panels, ihrem Stil bleibt sie treu.
Form und Inhalt aber passen in „Das Orakel spricht“ besser zusammen als in ihren anderen Büchern. Nicht perfekt geführt, nicht geradlinig, sondern mäandernd bewegt man sich als Leserin durch den Comic. Und nimmt damit gleichzeitig am kreativen Prozess der Autorin teil – immerhin Widerstand im Kleinen.
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