„Die Intuitionistin“ klingt nach einem gewagten Romantitel – ein bisschen kompliziert, ein bisschen rätselhaft, nicht unbedingt eingängig. Eher ein Titel für einen Autor, der sich schon etabliert hat und sich so eine Kantigkeit leisten kann. Tatsächlich aber ist „Die Intuitionistin“ der Debütroman des mittlerweile zweifachen Pulitzer-Preisträgers Colson Whitehead.
Lila Mae Watson ist Fahrstuhl-Inspektorin, die erste Schwarze Frau in diesem Job und stolz auf ihren Aufstieg. Aus den Südstaaten ist sie in die Stadt gezogen, die wie keine andere für Aufbruch und Modernität steht. New York, der Name fällt nicht, wie auch das Jahr der Handlung nicht klar benannt wird.
Und doch ist klar, dass Lila Mae genau hier, in New York, einen neuen Anfang wagt – und das in einer Zeit, in der rassistische Begriffe wie „colored“ ganz selbstverständlich gebraucht werden.
Weiße sind Weiße, sagt ihr Vater
Der jungen Frau steckt dabei die Kindheit im Süden der USA noch in den Knochen, und der Vater im Ohr, der ihr vor dem Umzug zuraunte, sie solle sich doch nichts vormachen. Weiße seien Weiße, im Süden wie im Osten. Mit dieser Prägung bewegt sich Lila Mae nun also durch New York. Sorgt sich um die Sicherheit von Aufzügen. Und um die eigene:
Empiristen versus Intuitionisten
Colson Whitehead hat sich für diese Protagonistin ein irrwitziges Szenario ausgedacht: Er verstrickt sie in einen Kriminalfall, lässt einen Fahrstuhl – just von ihr überprüft – im freien Fall abstürzen. Ausgeschlossen, dass sie etwas übersehen hat, denn:
Also muss detektivisch alles andere durchgespielt werden: Wer könnte ihr schaden wollen? Einer Schwarzen Frau, die aufsteigt? Was hat dieser Fall mit den zwei Lagern unter den Fahrstuhl-Experten zu tun? Es gibt die Empiristen – die jede Schraube von Aufzügen kontrollieren – und die Intuitionisten – die das Kontrollieren intuitiver angehen – und gerade stehen sich die beiden Seiten so verfeindet gegenüber wie heute Demokraten und Republikaner.
Albern nur auf den ersten Blick, denn je länger Colson Whitehead diese Idee durchzieht, umso vielschichtiger und produktiver wird sie. Das Spiel mit Hell und Dunkel, schwarz, weiß, oben, unten, Absturz und Höhenflug steckt im Aufzug.
Man denkt an „racial uplift“
Gleichzeitig ist es das Symbol der Großstadt, ein Vehikel, ohne das modernes urbanes Leben nie möglich wäre, was einerseits an die Hybris des Menschen – des Menschen oder: des Weißen – denken lässt, sich über alles zu erheben.
Und andererseits an „racial uplift“, diesen enorm ambivalenten Begriff, der die afroamerikanische Elite an der Schwelle zum 21. Jahrhundert antrieb und die Idee beschrieb, sie, die Elite, müssten die Schwarzen im Ganzen „upliften“, materiell und moralisch nach vorne bringen. Ein Konzept, das selbst tief verstrickt ist mit dem Klassismus und Rassismus der Zeit, aus der es stammt.
Whitehead sprengt die Form
Überhaupt entwickelt der Roman „Die Intuitionistin“ eine enorme Tiefenstruktur. Eine Detektivgeschichte ist er nur auf den ersten Blick, nur oberflächlich: ein lustvolles Spiel mit dieser hoch-regelhaften Literaturform. Denn Colson Whitehead sprengt die Form – lässt seine Detektivin, Lila Mae, am Ende keinen Kriminalfall lösen – eigentlich gibt es da nämlich keinen Fall –, sondern wenn schon, dann den Fall Lila Mae aufklären: Lässt sie ihre eigene Identität neu anschauen, lässt sie Fragen nach race, nach Orientierung, nach Aufstieg und Solidarität, neu stellen.
Ein Bildungsroman also vielleicht, oder ein Künstlerroman, eine Emanzipationsgeschichte, getarnt als neue Variante der Watson-detective-story. In jedem Fall: ein großes Debüt!
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Buchkritik Colson Whitehead – Die Regeln des Spiels
Schießereien, Raub, Rassenunruhen, Korruption und ständig Brandstiftungen – willkommen im Harlem der Siebziger Jahre. In seinem Roman „Die Regeln des Spiels“ fängt Colson Whitehead mit Witz den angekränkelten Spirit New Yorks in seiner düstersten Dekade ein und zeichnet ein Wimmelbild der kriminellen Szene.
Rezension von Wolfgang Schneider.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Hanser Verlag, 384 Seiten, 26 Euro
ISBN 978-3-446-27754-0
Gespräch Colson Whitehead - Harlem Shuffle
„Eine Ratte, die sich unter der Tür durchquetscht“ – so beschreibt sich der Möbelhändler Ray Carney. Er ist schwarz und versucht, im Harlem der späten 50er Jahre eine bürgerliche Existenz aufzubauen. Mit sauberen Mitteln gelingt das nicht. Colson Whitehead, neuer Star der amerikanischen Literatur, erzählt ein weiteres Kapitel aus der schwarzen Geschichte Amerikas. | Alexander Wasner im Gespräch mit Frank Hertweck. | Hanser Verlag, 384 Seiten, 25 Euro | ISBN 978-3-446-27090-9