Wenn jemand einem Buch den Titel „Das 21. Jahrhundert“ gibt, ehe ein Viertel des Jahrhunderts vergangen ist, dann ist das – was? Der Poptheoretiker und Kunstwissenschaftler Diedrich Diederichsen ist dieses Wagnis eingegangen mit seinem 1000-seitigen Werk „Das 21. Jahrhundert“ und führt im Gespräch mit SWR2 zu seiner Verteidigung an: Ist nur ein Scherz!
Das kulturelle Ei wird manchmal langsam ausgebrütet
Eigentlich habe er den Buchtitel bei Carl Einstein geklaut, bekennt der in Wien lehrende Kunstwissenschaftler und Poptheoretiker. Einstein habe bereits 1925 ein Buch „Das 20. Jahrhundert“ geschrieben.
„Und ich übertreffe ihn an Chuzpe“, sagt Diederichsen, um dann eine ernste Begründung nachzulegen, weshalb es doch möglich ist, so früh bereits eine Bilanz eines Jahrhunderts vorzulegen: Es gebe genügend Dinge, die „1960 als kulturelles Ei gelegt wurden, aber damals nicht geschlüpft sind.“ Irgendwann später aber schon – manchmal erst in unserem Jahrhundert. Um diese Verbindungen gehe es ihm in seiner Essaysammlung, die 1100 Seiten dick geraten ist.
Endlosigkeit als Zeichen der Zeit
Auch in diesem Punkt verteidigt sich Diederichsen mit dem Argument, dass alles länger geworden ist in der Kunst: Fernsehserien, Spielfilme, Popsongs, Bücher. „Das spielt in allen relevanten künstlerischen Gattungen keine Rolle mehr“, urteilt der Kunst-Professor.
Sein Buch sei ursprünglich neun Millionen Zeichen lang gewesen, in der gedruckten Fassung seien es noch immer 2,5 Millionen Zeichen. „Die Arbeit bestand im Kürzen und Rausschmeißen“ , gesteht Diederichsen den Arbeitsprozess an seinem Werk.
Kulturindustrie fehlt die Intelligenz für die unendliche Geschichte
Generell beobachte er eine Art „Deregulierung “ von Länge in der Kunst. Das berühmteste Beispiel habe bereits Richard Wagner geliefert, bei dem Zeit und Raum in einem anderen Verhältnis stünden.
Angesprochen auf seinen Essay „Wann ist endlich Schluss?“ gibt Diederichsen zu, dass er hier abermals den Titel eines anderen Werks zweitverwertet habe; in diesem Fall ein Programmheft. Er fährt fort, eigentlich verhindere nur noch die Unterhaltungsindustrie, dass die Kunst kein Ende habe: „Hätte die Kunstindustrie einen langen Atem, sähe das Ganze anders aus, aber sie hat in der Regel nicht die Intelligenz dafür.“
Pessimistische Perspektive auf die Kunst im 21. Jahrhundert
Im Gespräch mit SWR2 äußert sich Diederichsen eher pessimistisch über die Perspektiven der Kunst im 21. Jahrhundert. Sein Argument: Der Computer bedeute eine Bündelung der Kunst- und Medienformate: „Dass ich mit demselben Gerät, mit dem ich arbeite und kommuniziere, auch künstlerische Arbeiten rezipiere, das ist extrem verarmend.“
Diedrich Diederichsen gilt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Poptheoretiker. Der gebürtige Hamburger, Jahrgang 1957, lehrt an der Akademie der Künste in Wien. Zu seinen Werken zählen „Elektra – Schriften zur Kunst “ (1986), „Kritik des Auges“ (2008), „Über Pop–Musik “ (2014).
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Was geht - was bleibt? Zeitgeist. Debatten. Kultur. Vinyls, Buffalos und Synthesizer: Warum sind wir gerade so nostalgisch?
Die 80er und 90er Jahre sind zurück! Scheint zumindest so, wenn man aktuelle Musik hört oder Trends auf der Straße sieht. Und auch Apache 207 singt: “Ich seh' aus wie die Nineties, sie kriegt Daddy-Issues”. Aber woher kommt die Lust an der vergangenen Zeit? War früher wirklich alles besser? Oder reden wir uns die schnelllebige, digitale Gegenwart voller Krisen und Unsicherheiten schön?
Dass wir uns eher an positive Zeiten als an die negativen erinnern, bestätigt uns Monika Schönauer, sie ist Professorin für Neuropsychologin an der Uni Freiburg: “Je schlechter die Zeiten, desto mehr hat man einen Hang zur Nostalgie. In der Psychologie sagt man, Nostalgie ist ein Gefühl: Und wir können Erinnerungen abrufen, die dieses Gefühl auslösen.”
Pop-Experte und Autor Jens Balzer ist gerade aus den 90er-Jahren quasi wieder aufgetaucht: Er hat sich für sein neues Buch intensiv mit dem Jahrzehnt beschäftigt. Mauerfall, Ende des Kalten Krieges, das Ende der Geschichte: Es sie keine Überraschung, dass sich gerade viele nach den 90er-Jahren sehnen: “Die große Kriegsbedrohung, unter der man in den 80er-Jahren litt, war vorbei. Junge Menschen kamen ganz anders zusammen und feierten.” Diese Lust an Party habe zum Beispiel den Geist Berlins geprägt, der bis heute anhält.
Aber natürlich war früher eben nicht alles besser und Nostalgie hat nicht nur ihre schönen Seiten: Rechtspopulistische Politiker verklären gern die alten Zeiten und für viele, insbesondere queere Menschen, Frauen oder People of Colour waren die “guten alten Zeiten” oft alles andere als gut. Und es gebe natürlich auch ein kapitalistisches Interesse daran, die vergangenen Jahrzehnte zu verwerten, sagt Balzer: “Dass Serien wie Stranger Things gerade so populär sind, liegt auch daran, dass das die Generation der Boomer sei, die genug Geld hat, um zum Beispiel in die passenden Fashion-Items zu investieren.” Worin sich alle vier einig sind: Corona-Mottopartys in dreißig Jahren? Sie werden kommen!
Welches Jahrzehnt ruft bei euch nostalgische Gefühle hervor? Mailt uns, auch mit Feedback und Themenvorschlägen, an kulturpodcast@swr.de!
Host: Pia Masurczak und Christian Batzlen
Showrunner: Kristine Harthauer
Jens Balzers Buch über die 90er-Jahre: “No Limit. Die Neunziger - Das Jahrzehnt der Freiheit” https://www.rowohlt.de/buch/jens-balzer-no-limit-9783737101738
Buchkritik Jens Balzer – No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit
Historische Rückblicke auf bestimmte Schicksalsjahre sind seit einer Weile Mode. Mindestens ebenso ergiebig kann es aber sein, eine ganze Dekade in den Blick zu nehmen. Der Publizist Jens Balzer widmet sich in diesem Sinne seit 2019 den zurückliegenden Jahrzehnten der Zeitgeschichte. Er begann mit den siebziger Jahren, 2021 folgte ein Buch über die Achtziger, und nun ist Balzers Rückblick auf die neunziger Jahre in die Läden gekommen. Ein äußerst süffig zu lesender Kultur- und Mentalitätsabriss mit vielen erhellenden Momenten, sehr unterhaltsam, wenn auch mit einigen tiefen Lücken.
Rezension von Michael Kuhlmann.
Rowohlt Verlag, 382 Seiten, 28 Euro
ISBN 978-3-7371-0173-8