7000 Menschen konnte die Rote Armee lebend aus Auschwitz befreien, als sie am 27. Januar 1945 auf ihrem Vormarsch Richtung Nazi-Deutschland das Konzentrations- und Vernichtungslager erreichte. 7000 von insgesamt über 1,1 Millionen Toten, die die Nazis allein in Auschwitz vergasten, zu Tode folterten und verhungern ließen. Eine der Überlebenden, die damals 12-jährige Eva Szepesi, schwieg lange über die traumatischen Erlebnisse. Zum diesjährigen Holocaust-Gedenktag im Bundestag ist sie eine der Gastrednerinnen, um die Erinnerung an die Gräueltaten der Nazis wachzuhalten.
Aufarbeitung über Generationen hinweg
Seit 1996 gibt es in Deutschland den „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“, den der damalige Bundespräsident Roman Herzog eingeführt hatte. 2006 erklärten die Vereinten Nationen den Jahrestag der Auschwitz-Befreiung zum internationalen Gedenktag. Seitdem finden an oder um den 27. Januar herum auf der ganzen Welt Veranstaltungen statt, um der Nazi-Verbrechen zu gedenken und vor Judenhass zu mahnen.
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Die offizielle Gedenkstunde des Deutschen Bundestags findet in diesem Jahr am 31. Januar statt und steht im Zeichen der generationenübergreifenden Aufarbeitung des Holocausts. Die 91-jährige Auschwitz-Überlebende Eva Szepesi und der 74-jährige Sportreporter Marcel Reif sind als Gastredner geladen. Sie vertreten die sogenannte erste und die zweite Generation von Shoa-Überlebenden.
Eva Szepesi konnte lange nicht über Auschwitz sprechen
Eva Szepesi wurde 1932 in eine jüdische Familie in Budapest geboren und Ende 1944 von den Nazis nach Auschwitz deportiert. Bei der Befreiung des Lagers war sie 12 Jahre alt. Sie gehört damit zu den wenigen Kindern, die die Vernichtungslager und Todesmärsche überlebt haben.
Ein halbes Leben lang hat Eva Szepesi nicht über ihr Schicksal gesprochen. 1995, am 50. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung, brach sie erstmals ihr Schweigen und schrieb ihre Erinnerungen in einem Buch nieder. Heute leistet die 92-jährige Zeitzeugin wichtige Erinnerungsarbeit, erzählt Schülerinnen und Schülern ihre Geschichte.
Marcel Reif erfährt erst spät von der Familiengeschichte
Der bekannte Fußball-Kommentator Marcel Reif wusste wenig über seine jüdische Familiengeschichte. Dass er der Sohn eines Holocaust-Überlebenden ist, erfährt der 1949 in Polen geborene Sport-Journalist erst nach dem Tod des Vaters. Denn ähnlich wie Eva Szepesi konnte Leon Reif Zeit seines Lebens nicht über die traumatischen Erlebnisse sprechen.
Heute recherchiert Marcel Reif intensiv das Schicksal seiner jüdischen Familie im Holocaust. Vermutlich war es der Industrielle Berthold Beitz, der Leon Reif das Leben rettete, indem er ihn in letzter Minute vom KZ-Deportationszug holte. Viele weitere Familienmitglieder wie Marcel Reifs Großvater starben in den Konzentrationslagern der Nazis.
Fokus in diesem Jahr auf jungen Erwachsenen
Die Erinnerung an die Shoa über Generationen hinweg wachzuhalten, das haben sich Eva Szepesi und Marcel Reif zur Aufgabe gemacht. Denn Erinnerung lebt von Begegnungen. Persönliche Erlebnisse von Menschen machen die Vergangenheit erfahrbar.
Wie kann eine lebendige Erinnerungskultur aussehen, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt? Der diesjährige Holocaust-Gedenktag legt den Fokus auf jüngere Menschen, die das Gedenken an NS-Verfolgung innerhalb der Familie und der Gesellschaft über Generationen hinweg aufrecht erhalten haben.
Im Rahmen des diesjährigen Gedenktages sind junge Erwachsene, die sich bereits zum Thema Erinnerungskultur engagieren, zu einer mehrtägigen Jugendbegegnung eingeladen. Auf dem Programm stehen neben Gesprächen, Workshops, Filmvorführungen, Besuchen von Gedenkstätten sowie der „Arolsen Archives“ im nordhessischen Bad Arolsen auch eine Podiumsdiskussion mit den beiden Gastrednern an der Gedenkveranstaltung im Bundestag.
Jüdische Stimmen der Gegenwart
Nicht nur die wenigen noch lebenden Zeitzeug*innen erinnern an die Vergangenheit. Es sind auch die jüdischen Stimmen der Gegenwart, die durch ihr Engagement in der Öffentlichkeit jüdisches Leben in Deutschland sichtbar und normal machen. Stimmen wie die des Kulturmanagers Robert Ogman. Der gebürtige New Yorker und Wahlstuttgarter begegnet dem spürbar wachsendem Antisemitismus in Deutschland unermüdlich mit Aufklärung.
Auch die Publizistin Marina Weisband findet es bedrohlich, dass faschistische Ideologien weltweit zunehmen. „Ich muss mich aufs Kämpfen einstellen“, sagt die jüdische Deutsch-Ukrainerin in SWR2. „Wir leben in präfaschistischen Zeiten.“
Im Angesicht der Kriege in der Ukraine und Israel, des erstarkenden Antisemitismus und der Vertreibungsfantasien rechtsextremer Politiker*innen in Deutschland gewinnt der Holocaust-Gedenktag in diesem Jahr eine besondere Dringlichkeit.
Allein in Auschwitz starben 1,1 Millionen Menschen
Im vergangenen Jahr galt der Holocaust-Gedenktag besonders jenen Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität in der NS-Zeit getötet wurden. Denn nicht nur Jüdinnen und Juden verfolgten und ermordeten die Nationalsozialisten, sondern zahlreiche gesellschaftliche Gruppen, die der nationalsozialistischen Rassen-Ideologie nicht entsprachen: Sinti*ze und Rom*nja, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen Zeugen Jehovahs und politische Gegner*innen.
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Allein im KZ- und Vernichtungslager Auschwitz ermordeten die Nazis 1,1 Millionen Menschen. Man schätzt, dass insgesamt über sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch die Nazis ermordet wurden – mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Europas.
Antisemitismus heute
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Es diskutieren:
Esther Dischereit, deutsch-jüdische Schriftstellerin und Beobachterin des Untersuchungsausschusses zu den NSU-Verbrechen, Berlin
Sibylle Thelen, Leiterin der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und der Gedenkstättenarbeit, Stuttgart
Prof. Dr. Thomas Thiemeyer, Direktor des Ludwig-Uhland-Instituts für empirische Kulturwissenschaft, Tübingen
Gesprächsleitung: Silke Arning
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