Kontrollfreak und Filmrebell

Regisseur Yorgos Lanthimos – Gewinner des Goldenen Löwen und Favorit auf den nächsten Oscar

Stand
Autor/in
Rüdiger Suchsland

Lange Zeit war der 1973 geborene Grieche Yorgos Lanthimos eine skurrile Randfigur der internationalen Filmszene. Jetzt ist der Regisseur der große Favorit auf den nächsten Oscar. Er erzählt surreale Geschichten von kindischen Erwachsenen an phantastischen Orten. Von Menschen, die mit Verlust umgehen müssen und unerfüllte Sehnsüchte haben. Zugleich sind seine Filme voller schwarzem Humor. Ein Blick auf sein Werk.

Eine junge Frau, die nach einem Selbstmordversuch klinisch tot war, die wieder zum Leben erweckt wird, der aber, weil ihr eigenes Hirn schwer beschädigt war, das Hirn ihres ungeborenen Kindes eingepflanzt wird, das dann im Leib der Mutter wächst und gedeiht ...

Und das alles spielt im London eines imaginären, also nicht realen 19. Jahrhunderts, wie wir es aus Kinderbüchern kennen oder aus den Romanen Jules Vernes' – man kann „Poor Things“ von Yorgis Lanthimos – Gewinner des Goldenen Löwen von Venedig 2023 und elffach nominiert der große Favorit der Oscar-Verleihung 2024 – als einen Fantasy-Film beschreiben.

Befreiungsgeschichten

Doch „Poor Things“ ist auch ein Horrorfilm. Er ist auch eine kluge Meditation über die Allmacht der Wissenschaft. Und vor allem ist er die Befreiungsgeschichte einer jungen Frau, die zwar im Reich der Fantasie spielt, aber zugleich extrem aktuell für unsere Zeit ist.

Wenn diesem Film irgendetwas gelingt, dann eines: er bringt uns in Gespräch. So wie eigentlich jeder Film von Yorgos Lanthimos.

Filmstill
Über die Darstellung der Bella Baxter sagt Emma Stone: „Ich war aus all den richtigen Gründen ungemein aufgeregt und verspürte auch Angst. Bella kennt keine Scham, keine Schande, kein Trauma, sie kann auf keinerlei Erinnerungen oder Erfahrungen zurückgreifen.“

Phantasiewelten und Parallelgeschichte: Von Athen nach London

Lange Zeit war der Grieche eine skurrile Randfigur in der internationalen Autorenfilmszene. Jetzt ist er der große Favorit auf den nächsten Regie-Oscar.

Wer auch nur einen Film von Lanthimos gesehen hat, der wird die anderen sofort wiedererkennen. Nicht etwa, weil sie alle gleich aussehen; im Gegenteil: diese Filme sind höchst verschieden.

Sie wirken noch verschiedener, weil der 1973 geborene, aus der Athener Theaterszene stammende Regisseur nach seinem zweiten Film – „Alpen“ 2011 – auf dem Höhepunkt der griechischen Finanzkrise nach London zog, und seitdem dort Filme in englischer Sprache mit internationalen Schauspielern dreht.

Und nachdem Lanthimos mit „Lobster“ (2015) und „Killing of a Sacret Deer“ (2017) bereits große Erfolge gefeiert hatte, veränderte er sich nochmal: Mit „The Favourite“ begann 2017 eine neue Schaffensphase: Historienfilme, die irgendwie in realen geschichtlichen Epochen angesiedelt sind, und irgendwie auch in der Phantasiewelt einer fiktiven Parallelgeschichte.

Der englische Königshof im 18. Jahrhundert – Rachel Weisz als Sarah Churchill
Der englische Königshof im 18. Jahrhundert – Rachel Weisz spielt hier überzeugend Sarah Churchill.

Lanthimos mag Zeitlupen und die bewegliche Handkamera

Gemeinsam ist den Filmen von Lanthimos allerdings ihr Ton, ihre Atmosphäre und ihre Machart, sowie bestimmte handwerkliche Eigenarten, die sich auf die Zuschauererfahrung auswirken. Lanthimos mag Zeitlupen, und er mag eine bewegliche Handkamera.

Diese Kamera zeigt Figuren gern von hinten. Ebenso gern wählt er Kameraeinstellungen, die den Figuren die Köpfe am Hals abschneiden und deswegen nur die Körper, vor allem die Hände der Abgebildeten zeigen. Die Sprache dieser Hände ist wichtig besonders wichtig für den Regisseur.

Ein Hotel für einsame Seelen: Colin Farrell in "The Lobster"
Ein Hotel für einsame Seelen: In „The Lobster“ haben Singles 45 Tage Zeit, sich einen Partner oder eine Partnerin zu suchen, ansonsten werden sie in ein Tier ihrer Wahl verwandelt. Colin Farrell droht eine Zukunft als Hummer.

Bizarre Figuren mit unerfüllten Sehnsüchten

Die Figuren seiner Geschichten sind seltsame, kauzige oder bizarre Erwachsene, die sich gern sonderbar oder "eigenartig" und ungewohntes benehmen. Oder kindisch. Es sind kinderähnliche oder in der Kindheit stehengebliebene Figuren.

Schwarzer Humor und absurde Begleitumstände sind zwar ein Markenzeichen dieses Regisseurs – man kann eigentlich alle Filme dieses Regisseurs auch als Komödien ansehen.

Zugleich würde diese Charakterisierung zu kurz greifen. Denn die Menschen dieser Filme sind auch Getriebene: Sie sind von großen Sehnsüchten beherrscht, die unerfüllt sind. Sie müssen mit Verlusten umgehen.

Sterile Räume

Diese Menschen hausen in surrealen, sterilen Räumen und Umgebungen. Gerade die frühen Filme von Lanthimos zeigen Familienverhältnisse („Dogtooth“, „Killing of a Sacred Deer“) oder seltsame künstliche, aber enge Gemeinschaften wie eine Kommune („Alpen“) oder eine abgelegene Klinik („The Lobster“)

Rabenschwarzer Thriller, basierend auf antikem Vorbild: Nicole Kidman und Colin Farrell in "Killing of a sacred Deer"
Rabenschwarzer Thriller, basierend auf antikem Vorbild: Nicole Kidman und Colin Farrell in "Killing of a sacred Deer"

Ein seltsames Leitmotiv, das in vielen Lanthimos-Filmen immer wieder auftaucht, ist eine Variation des "Blinde Kuh"-Spiels: Menschen gehen mit verbundenen Augen durch die Welt.

Makabre Geschichten

Es sind makabere Geschichten, die bewusst mit Tabus spielen und die Grenzen des guten Geschmacks ausreizen. Sein griechisches Drama „Dogtooth“ erzählte von den Abgründen einer von der Welt abgeschotteten Familie. „The Lobster“ war eine Satire auf unsere kulturelle Obsession mit Paarbeziehungen, und auf die perversen Seiten unserer Tierliebe.

Irgendwann kommt es in den Geschichten zu plötzlichen Gewaltausbrüchen. Alles mündet dann in absurd doppeldeutige offene Enden, die Utopie wie Dystopie zugleich bedeuten können.

Yorgos Lanthimos
Folgt auf den Goldenen Löwen der Oscar? Am 11. März werden die begehrten Trophäen vergeben, Lanthimos gilt als Favorit.

Kassenerfolg

Es war „The Favourite“, sein Film über Ehrgeiz, sexuelle Konkurrenz und Kaninchen am Hofe von Königin Anne im frühen 18. Jahrhundert, der ihn 2019 in so etwas wie den Mainstream der weltweiten Wahrnehmung katapultierte.

Lanthimos gewann den Großen Preis der Jury in Venedig, sieben British Film Awards und eine Reihe von Oscar-Nominierungen. Es zeigte sich auch, dass er das Publikum gewinnen und richtig Geld machen konnte: Mit einem Budget von 15 Millionen US-Dollar erzielte er ein Einspielergebnis von fast 100 Millionen.

Zwei Töchter, eine Familie und kaum Kontakt zur Außenwelt: Szene aus „Dogtooth"
Zwei Töchter, eine Familie und kaum Kontakt zur Außenwelt: So geht es bei „Dogtooth“ zu.

Schauspielerregisseur

Schließlich gelingt es Lanthimos auch immer, große Schauspielernamen zu gewinnen: Lea Seydoux, Colin Farell, Nicole Kidman, Rachel Weisz und Olivia Colman. Und immer wieder Emma Stone. Nach der ersten Zusammenarbeit der beiden in „The Favourite“ und dem Kurzfilm „Bleat“ im Jahr 2022 folgt nun „Poor Things“.

Hier ist Stone als Co-Produzentin beteiligt. Ihre Leistung ist ein wesentliches Element des Films. Sie taucht nicht nur in fast jedem Bild auf, sondern muss auch den Übergang vom Kleinkind zu einer kritischen Erwachsenen vollziehen.

Leitmotiv: Das Wechselspiel von Kontrolle und Rebellion

Ihr ermöglicht Lanthimos viel Freiheiten – während seine Filme sonst von Kontrolle handeln und auch den Wunsch nach Kontrolle ausstrahlen.

Der Segen der Kontrolle und die Rebellion gegen sie – das ist in etwa das Leitmotiv aller Lanthimos-Filme. Gerade Bella und Königin Anne in „The Favourite“ machen mit bewusstem Fehlverhalten und Tabubrüchen die Lächerlichkeit und die Fehler ihrer Umgebung sichtbar.

Filmstill
Auch eine aussichtsreiche Kandidatin auf einen Oscar: Emma Stone in der Hauptrolle in „Poor Things“.
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Autor/in
Rüdiger Suchsland