Nach zehn Jahren hat die französische Regisseurin Catherine Breillat, Vertreterin der Nouvelle Vague, wieder einen Film gemacht. Er erzählt von der Amour Fou zwischen einer erfolgreichen Anwältin und ihrem Stiefsohn. Mit einer geradezu jugendlichen Lust an der Provokation fordert die mittlerweile 77-jährige Filmemacherin unsere moralische Gemütlichkeit heraus.
Retro-Hauch der 70er-Jahre
„Im letzten Sommer“ – der Titel dieses Films – hat die Unschuld eines Schulaufsatzes. Zugleich schwingt hier ein Hauch der 70er-Jahre mit, weichgezeichnete Filme mit jungen leicht bekleideten Menschen. Das alles kennzeichnet den neuen Film der französischen Regisseurin Catherine Breillat schon recht gut, und Breillat spielt offen mit den filmästhetischen Bezügen zu einer vergangenen Zeit mit ihren Werten und Empfindlichkeiten.
Die 77-jährige Filmemacherin fordert ihr Publikum heraus
Das Werk von Catherine Breillat ist ohne seine politische Dimension nicht zu denken. Immer wieder sucht die von einer geradezu jugendlichen Lust an der Provokation getriebene, mittlerweile 77-jährige Filmemacherin die Empfindlichkeiten des Publikums, die Trigger-Punkte, an denen sie ihren Geschichten irritierende Kraft geben kann, mit denen sie unsere Wahrnehmungsgewohnheiten und unsere moralische Gemütlichkeit herausfordert.
So auch in diesem Fall: „Im letzten Sommer" beginnt wie ein ganz normaler, konventioneller französischer Autorenfilm. Im Zentrum der Geschichte: Anne, Anfang 50, gutaussehend und erfolgreiche Anwältin. Sie verteidigt vor allem sexuell missbrauchte Frauen und lebt ein zufriedenes Leben, wie es für diese Gesellschaftsschicht selbstverständlich ist: Landhaus, liebender Geschäftsmann als Partner, zwei Adoptivtöchter, Designermöbel und schicke Autos.
Lolita-Stoff mit umgekehrten Rollen
Doch eines Tages zieht der 17-jährige Theo ein, der Sohn ihres Mannes aus dessen erster Ehe. Doch bald entpuppt sich der Stiefsohn als Unruhestifter: Er klaut, ist frech und rüpelhaft. Die Stiefmutter ist zunächst genervt, doch bald erliegt sie dem Charme der Jugend, den Theo ein bisschen kalkuliert, ein bisschen spielerisch einsetzt. Beide spüren die Zweideutigkeit der Situation, aber sie können nicht widerstehen.
Regisseurin Breillat nimmt also den schon ein wenig abgeschmackten „Lolita"-Stoff und haucht ihm kraftvolles neues Leben ein, indem sie die Rollen vertauscht.
Missbrauch oder weibliches Empowerment
Ist das nun noch Missbrauch oder ist es das Empowerment einer Frau, die sich einfach auch das nimmt, was sich Männer schon immer genommen haben? Oder ist nicht doch der 17-Jährige der eigentliche Verführer und die Frau die Schwache, die sich das Verlangen nach einem letzten Sommer nicht versagen will? Oder ist was wir sehen, einfach das ganz normale Leben, das eben aus vielen Grautönen besteht, nicht aus klarem Schwarz-Weiß?
Die Antwort ist hier in jedem Fall nicht eindeutig: Moralistinnen und Feministen aller Lager können sich darüber nach diesem Film die Köpfe heiß reden - schon das muss man an Breillats neuestem Streich unbedingt loben.
Kalkuliert eingesetzte ästhetische Schocks
Aber auch filmisch kann man viel schätzen: Denn „Im letzten Sommer" lebt von kalkuliert eingesetzten ästhetischen Schocks. Die Abwärtsspirale in die sich die Hauptfigur Anne begibt, besteht vor allem in der Idee des Surrealisten Georges Bataille, dass das echte Leben sich nur in der auch erotischen Selbstverschwendung ereignet.
Anne bleibt zugleich immer ein Mensch ihrer Klasse: Eine Privilegierte, die alles haben, aber nichts opfern will und bis zum Schluss mit allen Mitteln ihr bürgerliches Leben verteidigt.
Trailer „Im letzten Sommer“, ab 11.1. im Kino
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