Das Vorurteil, Puppentheater sei nur was für Kinder, hält sich hartnäckig. Dabei tummeln sich gebaute Figuren aller Art seit Jahren auch auf Opern- oder Theaterbühnen für Erwachsene. Denn Puppen können vieles, was Schauspieler*innen nicht können. Zum Beispiel stundenlang bluten, wie bei den Wormser Nibelungenfestspielen.
Nibelungenfestspiele 2024: Siegfried als Puppe
Siegfried, der Held des Nibelungen-Mythos, ist mausetot. Statt eines Schauspielers steht – besser gesagt liegt – 2024 eine Puppe als Drachentöter auf der großen Freilichtbühne der Nibelungenfestspiele vor dem Wormser Dom. Und die muss während der mehrstündigen Aufführung einiges über sich ergehen lassen.
„Mit einem Menschen ginge das nur ein einziges Mal“, sagt Maskenbildnerin Daniela Pietralla-Vogel schmunzelnd und erklärt, dass dem Siegfried unter anderem mit Waffen ziemlich zugesetzt wird. Daniela Pietralla-Vogel hat die Siegfried-Puppe mitgestaltet. Außerdem waren Kostümbildner*innen und Requisiteur*innen beteiligt.
Das Ziel: Die Puppe soll nicht als solche erkannt werden. Regisseur Roger Vontobel wünsche sich eine möglichst naturalistische Figur mit Wimpern, Augenbrauen und Fältchen, erklärt die Maskenbildnerin. Die Wormser Bühne ist nicht die Einzige, die ihr Ensemble mit einer Puppe ergänzt.
Puppen haben eigene Ästhetik
An vielen anderen Theatern oder Opernhäuser werden Puppen seit mehreren Jahren aus ganz unterschiedlichen Gründen eingesetzt. Oft werden die von ausgebildeten Puppenspielkünstler*innen angefertigt und auf der Bühne zum Leben erweckt.
Regisseur Jan-Christoph Gockel etwa, Mitglied im Leitungsteam der Münchner Kammerspiele und mehrere Jahre Hausregisseur am Staatstheater Mainz, setzt schon lange auf Schauspieler*innen und Puppen. Dafür arbeitet er eng mit Puppenspieler Michael Pietsch zusammen.
Der hat zum Beispiel für die Mainzer Inszenierung von „Der siebte Kontinent“ 2017 eine Albatros-Marionette aus Müll zusammengebaut. Müll, den Gockel und Pietsch bei Recherchen zu dem Theaterstück an einem Strand von Hawaii gefunden hatten. Die Inszenierung beschäftigt sich mit den Auswüchsen der Wegwerf-Gesellschaft. Die Müll-Marionette war das passende Sinnbild dafür.
Sie entfaltete eine ganz andere Wirkung, als wenn der Müll nur Teil des Bühnenbildes gewesen wäre. Während des Corona-Lockdowns hatten Puppen in einer Inszenierung von Jan-Christoph Gockel einen weiteren positiven Aspekt.
Figurentheater wegen Corona
Im Stück „Beethoven, ein Geisterspiel“ konnte die Beethoven-Puppe von Michael Pietsch nicht nur vom sprichwörtlichen Sockel steigen, auf den der Komponist gehoben wurde. Sie hat auch ein Zusammenstehen und Agieren von mehreren Figuren auf der Bühne ermöglicht, trotz des damaligen Abstandsgebots.
„Das Tolle ist: Eine Marionette kann einen Menschen treffen und ihm nahekommen“, sagte Michael Pietsch dem SWR während des Probenprozesses mitten im Lockdown. Die Puppen hatten also nicht nur einen ästhetischen, sondern auch einen praktischen Nutzen.
Ähnlich war es 2021 an der Pariser Nationaloper. Regisseurin Lotte de Beer hat bei ihrer „Aida“-Inszenierung viele Figuren mit lebensgroßen Gliederfiguren besetzt. Grund dafür waren nicht nur die Corona-Regeln. Komponist Giuseppe Verdi hat das Stück zur Hochzeit des Kolonialismus geschrieben und orientalische Klischees bedient. Zuletzt hatte die Oper außerdem immer wieder Debatten über das so genannte Blackfacing ausgelöst.
Aida ist eine äthiopische Prinzessin. Die Rolle mit einer weißen Sängerin zu besetzten und deren Gesicht schwarz anzumalen, kommt heute nicht mehr in Frage. Die Puppen in Lotte de Beers Aida-Inszenierung greifen diese Debatte auf und lassen Raum für Interpretationen. Für die Inszenierung hat sie mit dem renommierten britischen Puppendesigner Mervyn Millar zusammengearbeitet.
Puppenspielkunst als Studienfach
Künstler wie er arbeiten an der Schnittstelle von Schauspiel und Puppentheater. Mittlerweile kann man an zwei staatlichen Hochschulen Figurentheater beziehungsweise Puppenspielkunst studieren: an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart und an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin.
Die Absovent*innen beider Hochschulen prägen die vielfältige Puppentheaterszene von Deutschland und darüber hinaus.
Mehrere Stadttheater, zum Beispiel in Koblenz oder in Halle / Saale, haben mittlerweile eine eigene Puppenspiel-Sparte und erarbeiten mehrere Produktionen in der Spielzeit. Dazu kommen viele kleinere, freie Theater, die sich ganz dem Figurentheater verschrieben haben.
Die meisten der Macher*innen haben ihr Handwerk in Stuttgart oder Berlin gelernt. Wobei Handwerk dabei ganz wörtlich zu nehmen ist. Denn die Studierenden lernen nicht nur, mit Marionetten, Stab- oder Handpuppen umzugehen. Sie bauen die Puppen auch selbst.
Alles kann zur Puppe werden
Allein das ist eine Kunst, wie zum Beispiel die inzwischen legendäre Echse von Puppenspieler und Komiker Michael Hatzius beweist. Hatzius hat in Berlin Puppenspielkunst studiert und ist einer der wenigen, die mit dieser Kunstform nicht nur auf der Bühne, sondern auch Fernsehen zu sehen sind.
Seine überlebensgroße Echse und die anderen Handpuppen zeigen, was den Zauber dieser Kunstform ausmacht: Nicht nur Tier- oder Menschenpuppen können das Publikum in ihren Bann ziehen – es gibt auch Puppen in Form eines Toasters oder eines Koffers.
Unbelebtes wird als Puppe lebendig. Was im Film nur durch aufwendige Animation möglich ist, passiert auf der Bühne oft allein mit Hilfe schlichter Gesichtszüge und talentierter Puppenspieler*innen, die hinter ihren Figuren fast unsichtbar werden. Nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene können so leicht vergessen, dass sie Puppen und keine echten Lebewesen vor sich haben.
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